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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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unter dem rauhen Leinen blitzte ein kleines Stück scharlachfarbener Stoff hervor. Flink vergrößerte sie mit dem Zeigefinger das Loch und strich sanft über die glatte, glänzende Seide, die daraus hervorquoll. Mit geschickten Fingern zupfte und zerrte sie vorsichtig daran herum, bis sie das ganze Stück durch die kleine Öffnung gezogen hatte. Es war vielleicht eine Elle breit und anderthalb Ellen lang. Neugierig breitete Fygen es auf ihrem Schoß aus und strich es liebevoll glatt. Im strahlenden Sonnenlicht changierte es zwischen Feuerfarben und Granat. So edles und fein gewebtes Tuch hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Voller Verzückung betrachtete sie, wie sich die Farbe veränderte, wenn sie das Tuch in die eine oder andere Richtung drehte, je nachdem, wie das Licht darauf traf.
    Plötzlich fiel ein dunkler Schatten auf das Tuch, und das Rot wandelte sich zu tiefem Burgunder. Im selben Moment spürte Fygen einen scharfen schneidenden Schmerz auf ihrem Handgelenk. Fygen schrie auf und bedeckte mit der rechten Hand die schmerzende Stelle. Blut quoll darunter hervor, und Fygen biss sich auf die Unterlippe. Entsetzt blickte sie auf ihre Linke. Quer über die Innenseite des Handgelenkes zog sich ein blutiger roter Streifen. Durch den Schlag war die Haut einfach aufgeplatzt. Die Gerte schnellte zurück, ein brennender Schmerz fuhr ihr den Arm hinauf und nahm ihr die Luft zum Atmen. Vor ihren Augen tanzten unzählige dunkle Flecken, ballten sich zusammen, wurden immer größer. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, und gerade als sie sich der Dunkelheit ergeben wollte, wurde sie am Genick gepackt und unsanft emporgerissen. Achtlos fiel das kostbare Stück Seide zu Boden. Ein wutverzerrtes rotes Gesicht schwamm unscharf direkt vor ihren Augen. Eine Stimme brüllte, doch sie verstand die Worte nicht. Sie hatten nichts mit ihr zu tun. Es schüttelte und rüttelte sie, und dann drang allmählich ein Wort durch die Watte in ihrem Hirn: Diebin. Diebin!
    Die Angst griff wie eine kalte Hand nach ihr. Das gerötete Gesicht vor ihr gehörte zu dem Gehilfen des Kaufmannes mit der unordentlichen Frisur, so viel erkannte sie nun. Er war es, der sie im Genick gepackt hielt und sie eine Diebin nannte.
    Nein, sie war keine Diebin! Panik stieg in ihr auf. Sie konnte alles erklären. Wenn man sie nur losließe. Doch wie Schraubzwingen gruben sich die Finger des Mannes schmerzhaft in ihren Hals und zerrten sie gnadenlos vorwärts. Fygen strauchelte und wäre beinahen gefallen, doch der Gehilfe lockerte seinen Griff keinen Deut. Eine Haarschleife rutschte ihr aus dem Zopf, und wirre Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, gerieten ihr in Mund und Augen.
    Nach wenigen Schritten wurde sie grob auf die Schiffsplanken gestoßen, vor die Füße des Kaufmannes mit der unordentlichen Frisur. Voller Angst krümmte ihr schmaler Körper sich zusammen, die rechte Hand immer noch krampfhaft auf das blutende Handgelenk gepresst. Eine Diebin … Was würden sie mit ihr tun?
    »Hab sie beim Stehlen erwischt!«, stieß der Gehilfe aufgebracht hervor. »Hat sich an unserem Bündel zu schaffen gemacht.«
    Zwei weitere Beine traten in ihr Gesichtsfeld, und Fygen erkannte die Stimme des Schiffers: »Tut mir leid, mein Herr. Ich habe nicht gewusst, dass das so eine ist. Ich soll sie nur nach Köln mitnehmen.«
    »Die Dieberei werde ich ihr schon austreiben. Hab sie ja zum Glück im rechten Moment erwischt«, antwortete der Gehilfe. Das klatschende Geräusch der Gerte, die er spielerisch gegen seine ledernen Beinlinge schlug, ließ in Fygen Übelkeit aufsteigen. Wieder wurde sie gepackt und hochgerissen. Entsetzt schrie Fygen auf. Der Gehilfe warf sie grob über ein Holzfass mit eingesalzenem Hering. Das rauhe Holz drückte sich unsanft in ihre Wange, und Fygen stieg ein brackiger Geruch nach Seetang in die Nase. Nein, bitte nicht. Nein! »Nein!!!« Sie hatte es laut gerufen. Und ihre eigene Stimme weckte in ihr das kleine Quentchen Mut, das es zum Überleben braucht.
    »Bitte«, flehte sie unter Tränen, »ich wollte es nicht stehlen, es ist nur so … so wunderschön. Glaubt mir, ich wollte es nur anschauen. Es hat so eine schöne Farbe und ist so fein gearbeitet …«
    »Diebesgesindel!«, stieß der Gehilfe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Fygen vernahm das hauchfeine, gefährliche Pfeifen der Gerte, als er zum Schlag ausholte.
    »Warte, Eckert«, vernahm Fygen eine neue Stimme, bestimmt, aber nicht herrisch.
    »Bettelvolk,

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