Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Familie wider, und als sich alle mehr als satt gegessen hatten, scharten sie sich um den großen Kamin. Nun gesellte sich auch das Gesinde, das in der geräumigen Küche einen Festschmaus abgehalten hatte, zu ihnen. Gemeinsam sangen sie einige fromme Lieder, zu deren Takt Vater Starkenberg, wie wohl jeder Familienvater an diesem Tag, die Wiege hin und her bewegte, in der vor seinen Töchtern schon er selbst geschaukelt worden war. Eine von Adelheids Puppen gab, in Spitzentücher gewickelt, ein prächtiges Jesuskind ab. Doch es sah so urkomisch aus, wie der stattliche Mann mit seinen großen Händen unbeholfen die Wiege schaukelte, dass Fygen sich auf die Lippe biss, um nicht zu lachen. Heinrich selbst war sich der grotesken Situation durchaus bewusst und gab der Wiege einen letzten Schubs. »So, genug des Schaukelns«, brummte er gut gelaunt. »Ich weiß doch ganz genau, dass ihr alle nur darauf wartet, euer Offergeld zu bekommen.«
Lautstark protestierten Katryn und ihre Mutter.
»Na, dann brauche ich euch dieses Jahr ja nichts zu geben. Das wird eine preiswerte Weihnacht für mich«, fuhr er fort, sie zu necken. Doch dann griff er in die Tasche seines Wamses und förderte einige Geldstücke zutage. Jeder seiner Töchter legte er eine kölnische Mark auf die ausgestreckte Handfläche. Stürmisch umarmten sie ihn, um ihm zu danken. Seine Frau erhielt einige Guldenstücke, die sie rasch in einer Tasche ihres Rockes verschwinden ließ, bevor jemand mitbekam, wie überaus großzügig ihr Gatte war. Einer nach dem anderen traten die Bediensteten vor und erhielten entsprechend ihrem Rang zwischen einem und sechzehn Albus. Ein jeder knickste oder verbeugte sich, dankte und wünschte der Familie eine gesegnete Christnacht. Fygen hatte sich bewusst im Hintergrund gehalten, während Heinrich das Offergeld verteilte, doch als das letzte Küchenmädchen seinen Albus erhalten hatte, lag immer noch ein Geldstück auf der ausgestreckten Handfläche des Hausherrn. Heinrich gab vor, sich zu wundern, und blickte sich suchend in der Runde um. Dann schaute er Fygen an und fragte: »Was ist mit dir? Bist du so wohlhabend, dass du keine Verwendung für einen Albus hast?«
Mit vor Freude glänzenden Wangen trat Fygen vor und nahm das Geldstück entgegen. Es war das erste eigene Geld, das sie besaß und über das sie selbst verfügen konnte.
Die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr war ein einziger Festtag. Niemand arbeitete, man machte Besuche, und wer es sich leisten konnte, lud Freunde und Verwandte ein und feierte ausgiebig. Fygen blieb von diesen Feierlichkeiten ausgeschlossen, doch weder das noch der anhaltende Regen konnten ihr die Freude über ihren ersten Weihnachtstag nehmen. Und da außer ihr, Grete und Mettel keiner im Haus war und ihre Lehrherrin zudem des Öfteren Einladungen außer Haus folgte, hielten sich auch Fygens Haushaltspflichten in Grenzen. Sie besuchte Rudolf im Goldenen Krützchen, doch über die Feiertage war der Weinzapf gut besucht, und er konnte sich nur schwer von seinen Pflichten freimachen. Dafür lud er Fygen ein, den Abend vor dem Dreikönigsfest bei seiner Familie zu verbringen und gemeinsam mit ihnen das Bunnefest zu feiern.
Der Weinzapf war seit jeher an diesem Tag geschlossen, und der gesamte Haushalt versammelte sich am Abend des fünften Januar vor dem Essen in der Stube oberhalb des Schankraumes. Rudolf, seine Eltern, Rudolfs zwei kleine Schwestern, die als Zwillinge geboren waren, die dralle Magd Lena, die schon im Haushalt der Familie van Bensberg lebte, seit sie sich erinnern konnte, der junge, ein wenig dümmliche Knecht Jakob, der kaum älter war als Rudolf, und Fygen selbst. Sie alle ließen sich mit gespannten Gesichtern an dem großen Tisch nieder und warteten darauf, dass die Hausfrau auf einer hölzernen Platte einen Kuchen servieren würde. Rudolfs Vater griff nach dem großen Messer, zerteilte den Kuchen in acht gleich große Stücke und reichte jedem eines. Vorsichtig begann Fygen an einer Ecke zu knabbern, während sie aufmerksam in die Gesichter ihrer Tischgenossen blickte. In den Kuchen war nämlich eine Bohne eingebacken und gab dem Fest seinen seltsamen Namen. Wer die Bohne in seinem Kuchen finden würde, war für diesen Abend der Hauskönig. Und König zu werden verhieß Glück für das kommende Jahr.
Jakob, neben dem Fygen zu sitzen gekommen war, verzog plötzlich das Gesicht und hustete. Alle redeten und lachten durcheinander. Rudolf schlug ihm auf den Rücken und
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