Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
rechtzeitig erfahren.
Am Morgen machte Fygen sich auf in die Obermarspforten. Normalerweise schlenderte sie gemächlich durch diese Straße und ließ sich viel Zeit, die prächtigen Häuser der wohlhabenden Kaufleute zu bewundern. Doch heute war sie dazu viel zu aufgeregt. Selbst dem übermannshohen Rosenbaum vor Peter Lützenkirchens Haus, der seine blütenschweren Arme bis in den ersten Stock hinaufreckte und dem Gebäude seinen Namen, Zum Rosenbaum, gegeben hatte, schenkte sie keinen Blick.
Vor dem großzügigen Portal hielt sie kurz inne und atmete den verlockenden Duft der verblühenden Rosen ein. Sie strich ihren Rock glatt und betätigte dann voller Spannung den schweren Türklopfer. Dumpf hämmerte der polierte Löwenkopf auf das Unterteil, und Fygen zog rasch die Hand zurück, erschrocken von dem Geräusch, das sie selbst verursacht hatte.
Nach einer Weile öffnete sich das Tor, und ein gedrungener Kopf mit eckigem, vorgerecktem Kinn lugte heraus.
Vor Schreck wich Fygen ein gutes Stück zurück, als sie das kantige Gesicht erkannte. Denn es gehörte Eckert, dem untersetzten Gehilfen von Peter, demjenigen, der so freundlich gewesen war, ihr an Bord des Schiffes seine Gerte über den Arm zu ziehen.
Doch der Knecht schien das Mädchen nicht wiederzuerkennen. »Ja, bitte?«, fragte er, als schien er zu erwarten, dass sie etwas abliefere oder eine Nachricht zu überbringen habe.
»Ich soll zum Zunftvorstand kommen«, erklärte Fygen.
»Der ist nicht da!«
»Aber es hieß, ich soll zum Vorstand kommen, heute Morgen.«
»Er ist bei einer Sitzung des Zunftvorstandes.«
»Also bin ich ja doch richtig«, sagte Fygen erleichtert und machte einen Schritt auf Eckert zu, in der Erwartung, dass dieser ihr nun die Tür öffnen würde. Doch weit gefehlt. Eckert sah sie an, als wäre sie eine Schwachsinnige. »Ich sagte doch, er ist nicht da!«, wiederholte er, deutlich schärfer im Ton. Nun schaute Fygen ihn wirklich belemmert an.
»Aber Herr Lützenkirchen ist doch Zunftvorstand«, beharrte sie.
»Ja. Sag nicht, du weißt nicht, dass es mehr als einen Vorstand gibt«, sagte er, verblüfft über so viel Unwissenheit. Sie musste in der Tat schwachsinnig sein. »Und sie tref-fen sich reih-um, mal da, mal da«, erklärte er nun langsam und deutlich. »Heu-te bei Jo-hann Byr-ken. Drei Häu-ser wei-ter.« Um seine Worte zu verdeutlichen, wedelte er mit den Armen in der Luft, damit sie ihn auch ja verstand.
»Danke«, sagte Fygen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Straße hinauf in die Richtung, die Eckert ihr gewiesen hatte.
Noch war die Temperatur erträglich in Johann Byrkens gediegenem Kontor, denn durch die Fenster zum Hof wehte frische Morgenluft herein. Doch es würde nicht mehr lange dauern, bis die Hitze auch durch die dicken Wandtäfelungen in diesen Raum sickerte. Dora van Attendarne hasste diese Wärme. Schon jetzt stand ihr ein schmaler Schnurrbart aus Schweiß auf der fleischigen Oberlippe, und das Mieder ihres Kleides begann auf der Haut zu kleben. Hätte sie nur heute Morgen ein leichtes leinenes Kleid angezogen, statt der eleganteren pflaumenfarbenen Seidenrobe. Dora wischte sich mit der kleinen Hand über das Gesicht und griff nach dem Becher mit gekühltem weißen Wein, den Johann ihnen freundlicherweise kredenzt hatte. Nun, viel hatten sie heute ohnehin nicht zu besprechen, dachte die Hauptseidmacherin. Vielleicht wäre sie bereits wieder zu Hause, bevor die Hitze richtig unerträglich wurde. Mit einem tiefen Seufzen ihr schweres Schicksal beklagend, das sie heute Morgen dazu zwang, an dieser Sitzung des Seidamtes teilzunehmen, wandte sie sich wieder dem Gespräch ihrer Kollegen zu.
»… haben wir hier noch einen Fall, in dem ein Lehrmädchen die Lehrstelle wechseln will«, erklärte Peter Lützenkirchen den Anwesenden in gelangweiltem Tonfall.
»Nanu, wieso denn das?«, fragte Byrken verdutzt. Er thronte gewichtig in einem gepolsterten, seiner mächtigen Figur angemessenen, lederbezogenen Sessel.
»Sie scheint dort, wo sie zurzeit ist, nicht glücklich zu sein«, antwortete Peter.
»Nicht glücklich«, schnaubte Gertrud van der Sar, und ihre spitze Nase bebte vor Empörung. »Da könnte ja jede kommen! Diese Mädchen sind oft faul und liederlich, und sobald man sie etwas härter anfasst, wollen sie gleich davonlaufen!«
»Nun, nun«, beschwichtigte Johann Byrken. »Wer ist denn das fragliche Mädchen überhaupt?«
Als wäre es abgesprochen, öffnete sich just in diesem Moment
Weitere Kostenlose Bücher