Die Seilschaft
Schachtner.»
Der Zugang zur Dachterrasse war nicht verschlossen. Selbst in der Nacht sollten die Gäste Gelegenheit haben, sich an dem grandiosen Blick über die Teufelsschlucht zu erfreuen.
Das Geländer reichte nur bis zur Hüfte, was als Schutz normalerweise völlig ausreichte. Für einen Selbstmörder jedoch stellte es kein allzu großes Hindernis dar. Selbst für den übergewichtigen Schachtner nicht.
Wie schon bei Heinlein vor ein paar Tagen, näherte sich Kilian ihm mit Vorsicht.
Vertrauen aufbauen, keine Überraschungen.
Doch in diesem Fall machte ihm der Untergrund zu schaffen. Er ging nicht auf trittleisem Beton, sondern auf knirschenden Kieselsteinen.
«Herr Schachtner», sagte er, «ist es nicht ein wenig spät, um sich am Sternenhimmel zu erfreuen?»
«Lassen Sie mich in Ruhe», antwortete er. «Das muss ich allein klären.»
«Kann ich mich Ihnen anschließen?»
«Gehen Sie weg.»
Schachtner wuchtete seinen schweren Körper über das Geländer. Dahinter hatte er noch einen Fußbreit Platz, bevor es in die Tiefe ging.
Kilian kam schnell näher. Er musste ihn zu fassen kriegen, für Worte war es zu spät. Er erwischte ihn am Arm.
«Lassen Sie mich los», schrie Schachtner.
«Sie wissen, dass ich das nicht tun kann. Ich bin Polizist.»
«Zum Teufel damit.»
«Dort werden Sie auch gleich sein, wenn Sie nicht zur Besinnung kommen. Sie brechen sich alle Knochen.»
«Genau das habe ich vor.»
Schachtner stemmte sich gegen den Umlauf, aber Kilian hielt ihn verbissen fest. Doch die Gewichte waren ungleich verteilt. Unvermittelt hob es Kilian aus dem Stand über das Geländer.
«Kommen Sie endlich zur Vernunft», schrie Kilian den dicken Mann an. Er hatte gerade noch eine Hand am Geländer, die andere an Schachtners Arm. Der kniete inzwischen nur noch mit einem Bein auf dem schmalen Grat, das andere schwebte über der Teufelsschlucht.
«Lassen Sie mich endlich los», stöhnte er. «Ich will nicht mehr.»
«Wir können über alles reden, aber zuvor müssen wir das hier beenden.»
Schachtner hörte nicht mehr zu. Er ließ sich fallen.
Kilian wurde mitgerissen, bekam den Wasserablauf zu fassen und konnte ein Bein darüberschlagen. An seinem Arm hing weiterhin Schachtner. Dessen Gewicht nahm Kilian nicht nur den Atem, sondern seine Wunde hatte sich auch wieder geöffnet. Der Schmerz traf ihn wie ein Stromschlag. Er betete darum, dass bald etwas geschah. Ansonsten würde er loslassen müssen.
Er glaubte, sein Flehen sei erhört worden, als er Schritte auf den Kieselsteinen knirschen hörte.
«Hilfe …»
Die Schritte kamen näher. Er konnte nicht hochblicken, doch er hoffte, dass der Retter wusste, was zu tun war.
Der Unbekannte schwang sich behände übers Geländer.
«Helfen Sie mir», stöhnte Kilian, «ich kann nicht …»
Doch plötzlich spürte er einen Schlag in die Seite. Dann einen zweiten.
Kilian schrie vor Schmerz auf. Er blickte zur Seite und erkannte schwarze Motorradstiefel, die erneut ausholten. Der Tritt traf ihn in die Rippen und nahm ihm die Luft.
Er spürte noch, wie Schachtner ihm aus den Händen glitt. Dann krümmte er sich auf dem schmalen Fußsteg zusammen. Doch anstatt ihm den letzten Tritt zu verpassen, ließ der Unbekannte von ihm ab. Seine Schritte entfernten sich schnell über dem Kies.
Kilian zwängte sich durchs Geländer auf sicheres Terrain, wo er erschöpft das Bewusstsein verlor.
Das Letzte, was er zu hören glaubte, war das Aufheulen eines Motors.
31
Der Vorplatz hatte sich binnen einer halben Stunde mit Einsatzfahrzeugen der Polizei, der Feuerwehr und des Roten Kreuzes gefüllt. Große Scheinwerfer warfen ihr kaltes Licht in die Teufelsschlucht, wo Feuerwehrleute den toten Schachtner bargen.
Kilian lag auf einer Krankentrage in einem Sanitätsfahrzeug.
«Das muss unbedingt behandelt werden», sagte der Notarzt. «Am besten fahren wir sofort ins Krankenhaus.»
Kilian erhob sich. «Dafür ist jetzt keine Zeit.»
«Aber Sie können sich ernsthafte innere Verletzungen zugezogen haben.»
«Das Risiko muss ich eingehen.»
Er knöpfte sein Hemd zu, zog eine Jacke an und stieg aus dem Krankenwagen. Auf dem Vorplatz erwartete ihn bereits ein Kollege von der Kriminalpolizeiinspektion Aschaffenburg. Der schaute finster drein und war über den frühen Einsatz alles andere als erfreut.
«Kilian, Kripo Würzburg», sagte Kilian.
«Mehldorn, Kripo Aschaffenburg», antwortete der andere. «Was ist hier vorgefallen?»
Er zündete sich eine Zigarette
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