Die seltene Gabe
schätze, wir müssen uns etwas anderes ausdenken.« Ich musterte ihn von der Seite. Wir? Wir mussten gar nichts. Ich zweifelte nicht daran, dass es zahllose Möglichkeiten gab, Stuttgart zu verlassen. Wichtig für mich war bloß, dass alle noch verbliebenen Wege lediglich aus der Stadt heraus in ihre Nachbarschaft führen würden, nicht auf eine fünfhundert Kilometer weite Reise. Armand steuerte auf einen gläsernen Schaukasten zu, in dem Fahrpläne und Landkarten von Stuttgart und Umgebung aushingen. Während er die Pläne studierte, verlustierte ich mich eine Weile vor den Schaufenstern daneben, betrachtete sündhaft teure, sagenhaft unbequem aussehende Kleider, bunte Porzellanfiguren und kostbares Kristallgeschirr. Seltsam, das alles schien einer ganz anderen, fremdartigen Welt anzugehören. Ich wartete immer darauf, dass von irgendwoher Polizisten auf uns zugestürmt kamen. Ich fand es merkwürdig, dass der Bahnhof so massiv bewacht wurde und die Gegend darum herum fast überhaupt nicht. Also, selbst ich hätte das besser gemacht, sagte ich mir. Ich war regelrecht verärgert. »Ich weiß, was wir machen«, verkündete Armand plötzlich.
Ich sah ihn an. Sein triumphierendes Grinsen verhieß nichts, was mir gefallen würde. »Ach ja? Und was? Willst du ein Flugzeug entführen? Einen Reisebus?« Er tippte auf die Glasscheibe über einem schematischen Verkehrslinienplan. »Da. Schorndorf. Dort hält der Nachtzug nach Dresden das erste Mal. Aber der Witz ist, man kann auch mit der S-Bahn nach Schorndorf fahren. Wir brauchen überhaupt nicht in den Hauptbahnhof hineinzukommen. Wir fahren einfach nach Schorndorf und steigen dort zu.« Er wandte sich zum Gehen. »Komm!« Die gemütlich promenierenden Passanten würdigten uns kaum eines Blickes. An einem knallorangen Automaten löste Armand Fahrkarten für uns, dann fuhren wir mit den Rolltreppen hinab zu den S-Bahnen. Doch dort stimmte irgendwas nicht. Die schmalen unterirdischen Bahnsteige waren von einer Unmenge Menschen bevölkert, die alle aufgebracht durcheinander redeten und äußerst ungehalten wirkten. »Was ist denn hier los?«, murmelte Armand beunruhigt. Gleich darauf verkündeten Lautsprecher, was los war. »Achtung, hier ist die Betriebsleitstelle«, rief die Stimme eines nervös klingenden Mannes. »Ich wiederhole die Durchsage: Aus technischen Gründen muss der stadtauswärts führende S-Bahn-Verkehr eingestellt werden. Bis auf weiteres verkehren S-Bahnen nur zwischen Hauptbahnhof und Schwabstraße. Reisende ins Stuttgarter Umland und zum Flughafen begeben sich bitte zu den Bushaltestellen. Es wird gerade ein Schienenersatzverkehr mit Bussen organisiert. Ich wiederhole, bis auf weiteres verkehren S-Bahnen nur zwischen dem Hauptbahnhof und der Haltestelle Schwabstraße.« Ich musste unwillkürlich grinsen. Jede Wette, dass der angebliche technische Grund neben mir stand. »Wird doch nichts mit Dresden«, rief ich ihm durch das Stimmengewirr zu. »Da war jemand schlauer als du!« Armand nickte finster. »On verra«, hörte ich ihn knurren. Dann nahm er meine Hand und bahnte uns einen Weg zwischen murrenden und schimpfenden Leuten hindurch zum nächsten Schaukasten mit Fahrplänen. Dort studierte er finsteren Blicks noch einmal die Pläne und Karten, spähte immer wieder prüfend auf eine der Uhren, die entlang des Bahnsteigs hingen, und brabbelte in unverständlichem Französisch vor sich hin. Ich gab es auf, erraten zu wollen, was er sich überlegte, und vertrieb mir die Zeit damit, den Stadtplan von Stuttgart zu studieren und die Bedeutung der verschiedenen Symbole zu enträtseln. »Ich hab’s«, sagte er plötzlich, wandte sich ab und deutete auf die stadteinwärts fahrende S-Bahn, die gerade einfuhr. »Los, die nehmen wir. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« »Darf man erfahren, wohin es geht?«, fragte ich spitz. »Dresden, nach wie vor.« »Und wie willst du das anstellen?«
»Erkläre ich dir später. Komm.« Wir drängelten uns in einen der Wagen, standen eingekeilt zwischen missgelaunten Menschen, hörten die Durchsage von vorhin noch ein paar Mal und bekamen an jeder Station Aktentaschen gegen die Schenkel oder ins Kreuz gedrückt – aber wir kamen unbehelligt zur Endstation, einer in giftigem Gelb gehaltenen Halle. Auf den Schildern stand »Schwabstraße«. Niemand beachtete uns, als wir zusammen mit all den anderen ausstiegen. Wir traten gerade von der Rolltreppe oben auf die Straße, als ein Polizeiauto dicht an uns vorbeifuhr, ohne
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