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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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im Bahnhof unter Garantie aufgehalten hätten. Das ist doch kein Zufall.« Ich ließ die Ereignisse des Abends noch einmal vor dem inneren Auge Revue passieren und musste ihm Recht geben. »Das heißt, dass Pierre uns gesehen hat und beschreiben konnte.« »Sieht ganz so aus«, nickte Armand. »Obwohl ich gewettet hätte, dass er dazu unmöglich Zeit gehabt haben kann ...Naja, wie auch immer. Jedenfalls, man sucht nach einem Jungen mit hellen Locken und ei nem Mädchen mit glattem blondem Haar. Deswegen wirst du ab jetzt blonde Locken haben und ich eben wieder glattes und schwarzes Haar . . .« »Deinen grausam gestutzten Schopf, meinst du.« »Wir haben nichts anderes. Darum auch der Jacken-tausch. Du hast nicht zufällig deine Schminksachen dabei?« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Glaubst du, ich habe nichts Wichtigeres auf eine Entführung mitzunehmen als Schminksachen?« »War ja nur eine Frage. Deine Jacke, bitte.« Wir tauschten die Jacken und ich setzte die Perücke auf, so gut das in dunkler Nacht und ohne Spiegel ging. Offen gestanden nicht gut. Ich hatte keine Möglichkeit, mein Haar hochzustecken, sondern musste es auf gut Glück unter den Rand der Perücke stopfen. Ich schätze, ich habe grauenhaft ausgesehen; wie jemand mit Geschwülsten auf der Kopfhaut. »Eine Brille wäre gut«, überlegte Armand. »Hast du nicht wenigstens eine Sonnenbrille dabei? Aus der könnte man die Gläser herausbrechen; das würde in der Nacht nicht auffallen.« »Eine Sonnenbrille, aus der man die Gläser . . .? Nein. Ich trage nie Sonnenbrillen.« Auf was für abstruse Ideen dieser Mensch kam! »Bedauerlich«, meinte Armand und spähte durch die Zweige auf die Straße. »Dann werde ich mir eben eine klauen.« Ich konnte ein spöttisches Auflachen nicht verbeißen.
    »Ich glaube kaum, dass nachts besonders viele Leute Sonnenbrillen tragen.« Auch das überhörte Armand geflissentlich. »Niemand zu sehen, komm!« Wir verließen das Gebüsch auf der entgegengesetzten Seite und setzten unseren Weg die Straße aufwärts fort, als sei nichts geschehen. Armand legte ein straffes Tempo vor, um mich ein paar hundert Meter weiter plötzlich am Arm zu packen und in den Schatten eines Hauseingangs zu ziehen. »Schau mal«, flüsterte er. »Dort drüben.« Ich sah in die angegebene Richtung und erwartete eigentlich, einen Polizisten dort stehen zu sehen, oder Pierre, oder sonst irgendjemand Gefährliches. Doch ich sah nur einen halbwüchsigen Jungen, der gegen eine Litfaßsäule gelehnt auf irgendetwas zu warten schien. Er hatte die Haare sorgfältig frisiert, eine brennende Zigarette lässig im Mundwinkel, die hellbeige Jacke offen und im Ausschnitt seines Pullovers eine Brille eingehängt. Armand lachte leise. »Jede Wette, dass er von heute Abend an fest an fliegende Untertassen glauben wird.« Dann setzte er seine unheimlichen Kräfte ein. Fasziniert verfolgte ich, wie sich die Brille aus dem Pulloverausschnitt aufwärts schob, und ehe der Junge begriff, was da geschah, schoss sie plötzlich senkrecht nach oben wie eine Rakete, glitzerte neben einer Straßenlaterne noch einmal kurz auf und verschwand dann im dunklen Nachthimmel. Die Reaktion von Armands bedauernswertem Opfer werde ich nie vergessen. Er stand da, die eine Hand auf der Brust, wo eben noch die Brille gehangen hatte, den Kopf in den Nacken zurückgelegt und ungläubig nach oben starrend. Er konnte es nicht fassen, nicht um alles in der Welt. Immer wieder betastete er seinen Pullover, sah zu Boden, sah empor, drehte sich ein paar Mal um sich selbst, zerraufte sich die Haare, begann in seinen Taschen zu wühlen, umrundete suchend die Litfaßsäule und schüttelte bei all dem unablässig den Kopf. Währenddessen streckte Armand seelenruhig die Hand aus, und im nächsten Augenblick schwebte die Brille aus der Dunkelheit herab und landete zielsicher auf seiner Handfläche. Es war eine sehr modische Sonnenbrille, die unter Garantie teuer gewesen war, mit dickem schwarzem Rand und selbst verdunkelnden Gläsern, jetzt in der Nacht natürlich völlig klar. Armand setzte sie auf und sah mich an. »Na, wie sehe ich aus?« »Nicht mehr wieder zu erkennen«, musste ich zugeben. »Hör mal, das war eben aber nicht fair.« »Stimmt«, nickte Armand mit plötzlichem Ernst, nahm die Brille wieder ab und steckte sie zusammengeklappt in die Brusttasche. »Aber das hier ist auch kein lustiges Fangspiel.« Er sah auf die Uhr. »Komm, wir müssen uns beeilen.« Wir gingen weiter bergauf.

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