Die seltene Gabe
uns zur Kenntnis zu nehmen. »Ich glaube, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, meinte ich misslaunig, während ich dem grünweißen Mercedes nachsah. So viel zum Thema Großaufgebot der Polizei. »Mache ich mir auch nicht«, erwiderte Armand, der die Schilder mit den Straßennamen las und anscheinend versuchte sich zu orientieren. » Noch nicht jedenfalls.« »Wieso das denn? Ach, lass mich raten. Pierre.« »Pierre, ganz genau. Wir müssen in diese Richtung«, bestimmte Armand und wies auf eine mehrspurige, unerbittlich aufwärts führende Straße. »In einer so großen Stadt eine einzelne Person zu finden ist mit normalen Mitteln unmöglich. Sie haben nur eine Chance, wenn sie Pierre zu Hilfe holen. Und ich habe nur eine Chance, wenn es mir gelingt, so schnell wie möglich zu verschwinden.«
»Nichts gegen deinen Freund Pierre, aber hier in Stuttgart leben hunderttausende von Menschen, die alle kreuz und quer durcheinander denken«, wandte ich ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie er dich heraushören will aus dem Gewimmel.« Ein flüchtiges Grinsen glitt über Armands Gesicht. »Oh, so funktioniert das nicht. Telepathie, das ist kein Radio, weißt du?« »Entschuldige, dass ich so wenig Erfahrungen mit Gedankenlesen habe.« Von einer Dönerbude wehten erbarmungslos leckere Düfte herüber. Ich hatte Hunger, merkte ich. Kein Wunder, dass meine Laune allmählich nicht mehr die beste war. Falls Armand etwas davon mitbekam, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Aber du hast Recht, das ist eine faszinierende Vorstellung. Sie bringen Pierre nach Stuttgart und er wird bei der Suche nach uns wahnsinnig. Dann wären wir ihn los.« Er gluckste belustigt. Schien wahrhaftig nicht die große Liebe zu sein zwischen den beiden. »Zumal er uns ja nicht finden wird, weil wir nicht mehr da sein werden.« Die Straße machte eine scharfe Biegung nach rechts. Hohe Ziegelhäuser, Lichter hinter bunten Vorhängen, ein Häuserblock in maurisch angehauchtem Stil, eine Baustelle am Straßenrand, geparkte Autos, fahrende Autos, Ampeln, Straßenlaternen – die Eindrücke verschwammen vor meinen Augen. Ich wurde langsam müde. Ich sah auf die Uhr: Kurz nach zehn. Eine Zeit, zu der ich gewöhnlich auch dann schläfrig werde, wenn ich den ganzen Abend nur faul zu Hause herumgesessen bin. »Du hast ein Ziel, oder?«, maulte ich. »Du gehst nicht so aufs Geratewohl irgendwo hin?« »Nein«, schüttelte Armand den Kopf. »Ich gehe nicht aufs Geratewohl irgendwo hin.« »Sonst hätte ich nämlich dafür plädiert, in eine Richtung zu marschieren, in der es abwärts geht.« »Für die Beschaffenheit der Stadt kann ich nichts«, erwiderte Armand. Er deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Da!«, sagte er. »Gehen wir dort hinüber. Das ist günstig.« Ich registrierte mit Unbehagen, dass er auf eine gruselig wirkende kleine Parkanlage voller unheimlicher, finsterer Winkel und Schatten zwischen Büschen und Bäumen zeigte. »Günstig? Wovon redest du?«, krächzte ich. Doch da war Armand schon halb auf der Straße und mich zog er hinter sich her. Mir wurde reichlich anders, als wir uns da durch Gestrüpp und Gesträuch zwängten, ich auf ich weiß nicht was trat und wir schließlich irgendwo im Halbdunkel anhielten, an einem sichtgeschützten Platz, an dem man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Ich sagte mir, dass Armand sicher nicht vorhatte, mich nun zu erwürgen oder sonst irgendetwas Übles mit mir anzustellen, aber der Ort und die Umstände verursachten mir trotzdem Gänsehaut. »Was soll das?«, zischte ich nervös.
»Hier sieht uns keiner, hoffe ich«, sagte Armand und zog sich die Lockenperücke vom Kopf. »Aber vielleicht hat uns ja jemand hier hereinkriechen sehen?« »Na, und wennschon«, meinte er ungerührt. »Er wird an das Naheliegendste denken, oder?« Er reichte mir das Haarteil. »Setz du jetzt die Perücke auf. Dann tauschen wir die Jacken.« Er begann, seine auszuziehen. »Bitte? Wozu das denn jetzt?«, protestierte ich. »Außerdem bin ich von Natur aus blond, danke. Ich brauche keine Perücke.« Armand seufzte wie ein leidgeprüfter Lehrer, dessen Schüler nichts kapiert hat. »Überleg doch mal. Die Polizisten, die uns am Bahnhof festgenommen haben, müssen eine Personenbeschreibung von uns gehabt haben, oder? Übers Funkgerät kommt eine Durchsage, und im nächsten Moment steuern sie genau auf uns zu – vorbei an mindestens drei jungen, schwarzhaarigen Typen, die die beiden Polizisten bei euch
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