Die seltene Gabe
Ich warf einen letzten Blick zurück. Der Junge lief immer noch ziellos umher, und jetzt war er in fassungsloses Kichern verfallen. Er konnte einem Leid tun. Die Straße war steiler, als sie aussah, und man kam ganz schön ins Keuchen bei dem Tempo, das Armand vorlegte. Ich hatte Mühe, nicht zurückzufallen. »Wenn du mir nur endlich erklären würdest, was du eigentlich vorhast!«, beschwerte ich mich kurzatmig. »Wir werden den Nachtzug nach Dresden nehmen«, erklärte er, ebenfalls heftig atmend. »Der fährt um 23 Uhr 08. In einer guten halben Stunde also. Von Gleis 16.« »Ach ja?«, ächzte ich. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind kilometerweit vom Hauptbahnhof entfernt, und wir entfernen uns mit jedem Schritt weiter.« »Moment, lass mich ausreden. Das Problem ist, dass wir in den Hauptbahnhof nicht hineinkommen, richtig? Nicht durch die Eingänge jedenfalls. Egal, wie wir uns verkleiden, sie würden uns schnappen.« »Und? Was willst du stattdessen machen? Über die Gleise gehen?« Er warf mir einen unwilligen Blick zu. »Sei nicht albern. Die bewachen sie natürlich auch. Nein, ich habe mir vorhin die Fahrpläne genau angesehen. Um 22 Uhr 59, also neun Minuten vorher, kommt im Hauptbahnhof ein Nahverkehrszug aus Horb an, und zwar auf Gleis 15. Und in diesem Zug werden wir sein.« »Was?!« »Der Witz ist, dass Gleis 15 und 16 am selben Bahnsteig gegenüberliegen. Der Zug aus Horb ist ein Nahverkehrszug, das heißt, er hält an jeder Station, und die Strecke, die er fährt, führt über den Stuttgarter Westbahnhof. Und dorthin sind wir gerade unterwegs.« »Der Westbahnhof . . .?!« Ich sah keuchend die Straße entlang, die immer weiter aufwärts führte, ganz weit vorn um eine weitere Kurve ging und kein Ende zu nehmen schien. Stimmt. Den hatte ich auf dem Stadtplan sogar gesehen. Ein weißes Kästchen. Es gab auch einen Nordbahnhof, der war allerdings als schwarzes Kästchen eingezeichnet gewesen. »Dort werden wir einsteigen. Und wenn wir im Hauptbahnhof ankommen, brauchen wir bloß auszusteigen, ein paar Schritte quer über den Bahnsteig zu machen und wieder einzusteigen, nämlich in den bereitstehenden Zug nach Dresden. Ganz einfach, nicht wahr?«, schloss er hochzufrieden. Ich nahm mir ein gutes Dutzend Schritte Zeit, mir die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Das war gar nicht so dumm ausgedacht, musste ich zugeben. »Bist du sicher, dass die Gleise 15 und 16 einander gegenüberliegen?« »Das habe ich gesehen, als wir durch die Bahnhofshalle gegangen sind. Erinnerst du dich? Der erste Nachtzug ging von Gleis neun ab, und das lag links vom Bahnsteig, gegenüber Gleis zehn. So geht das weiter – elf und zwölf, 13 und 14, 15 und 16.« »Gut, verstehe. Aber glaubst du, sie werden die Bahnsteige nicht auch kontrollieren?«
»Sie bewachen ja die Eingänge. Warum sollten sie dann auch noch die Bahnsteige kontrollieren?« »Na schön. Aber du weißt es nicht. Und was willst du machen, wenn wir ankommen und der Bahnsteig voller Polizisten ist, von vorn bis hinten, die jeden unter zwanzig Jahren anhalten? Dich ergeben?« »Natürlich nicht«, erwiderte Armand gelassen. »In diesem unwahrscheinlichen Fall werden wir uns unauffällig in eine Toilette des Zuges einschließen und abwarten, bis er eine Viertelstunde später wieder zurück nach Horb fährt.« Wir keuchten eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Kurve dort vorn sah viel versprechend aus, dahinter waren Lichter zu sehen, Häuser, die keine Wohnhäuser mehr waren. Es sah aus, als sei der Westbahnhof ganz nahe. Irgendwas stimmte trotzdem nicht. Mir ging das weiße Kästchen nicht aus dem Sinn. Wieso weiß? »Na schön«, stieß ich hervor. »Ein perfekter Plan.« »Nicht wahr?«, grinste Armand. »In Filmen gehen perfekte Pläne immer schief.« Armand überhörte den Einwand. »Weißt du, was das Beste ist? Es gibt tausende von Wegen heraus aus einer Stadt wie dieser, und auf irgendeinem davon werden sie mich vermuten. Stattdessen sitze ich in einem Zug, in dem man mich so wenig suchen wird wie im Kofferraum eines Streifenwagens.« Ich nickte ergeben. »Großartig.« Was hieß das? Dass er endlich vorhatte, ohne mich weiterzufahren? Ich hatte keine Lust mehr, darüber nachzudenken. Sollte er doch machen, was er wollte. Die letzten Meter. Die Straße lag schnurgerade vor uns, links standen Bäume, dahinter Wohnblöcke, auf der rechten Seite eine Reihe von Geschäftshäusern, weiter hinten eine Tankstelle. »Wir müssen
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