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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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gleich da sein«, versicherte Armand, obwohl ich ihn nicht danach gefragt hatte. Da. Da war es. Ein Schild mit der Aufschrift »Westbahnhof«. Es hing an einem älteren, etwas von der Straße zurückgesetzten Gebäude mit gelb erleuchteten Butzenglasscheiben. Es gab ein Vordach und allerhand Metallgitter, doch an der Wand prangte das Emblem einer Brauerei, während man das rot-weiße Logo der Bahn vergeblich suchte. Je näher wir kamen, desto deutlicher war Musik zu hören. Ein perfekter Plan? Ich musste unwillkürlich auflachen. Der »Westbahnhof« war kein Bahnhof, sondern eine Gaststätte!

Kapitel 9 |
    »Merde!«, stieß Armand hervor. »Das kann nicht sein. Wir sind falsch.« Kam es mir im fahlen Licht der Straßenlaternen nur so vor, oder war er blass vor Entsetzen? Ich trat unter das Vordach. Eine trübe Lampe beleuchtete einen mit uralten Steinfliesen belegten Boden. Viele davon wiesen Risse auf, in den Ritzen wuchs Gras. Es war ein Weg, der um das Gebäude herumführte. »Wir sind nicht falsch«, sagte ich, als ich sah, was auf der anderen Seite war. »Schau dir das an!« Er war neben mir wie der Blitz. Auf der Rückseite des Gebäudes verlief ein von Unkraut überwucherter Bahnsteig. Zwei Paar Schienen liefen unter uns vorbei, verschwanden nach rechts hinter den Gebäuden und links in einem Tunnel. »Das war einmal ein Bahnhof«, erklärte ich, was offensichtlich war. »Man hat ihn bloß stillgelegt.« Armand schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber er war eingezeichnet. Auf dem Stadtplan war er eingezeichnet, als Bahnhof.« »Als weißes Kästchen. Was wahrscheinlich bedeutet, dass ein Bahnhof stillgelegt ist. Du hättest dir die Kartenlegende genauer anschauen müssen.«
    »Merde«, ächzte Armand. »Je suis cuit.« In dem Moment hatte ich keine Ahnung, was das hieß, aber zweifellos war es ein Ausdruck, den ich ohnehin nie in der Schule lernen würde. »Das heißt, der Zug wird hier auch nicht halten.« Ich hob die Augenbrauen. »Sollte mich wundern.« Was ein Glück, dass das nicht mein Problem war. Er stand eine ganze Weile wie zum Standbild erstarrt. Eine ganz schön lange Weile, wenn ich es recht bedenke. Ich musterte ihn von Zeit zu Zeit, weil ich mir nicht sicher war, ob er bloß nachdachte oder ob ihn der Schlag getroffen hatte. »He«, sagte ich schließlich. »Das ist doch kein Problem. Wir vergessen den Zug nach Dresden einfach und nehmen irgendeinen Bus, der aus der Stadt hinausfährt. Oder eine Straßenbahn. Die können doch unmöglich alle Linien bewachen, oder? Und dann sieht man weiter.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Pierre wird mich finden«, flüsterte er kehlig. »Wenn ich morgen früh nicht mindestens zweihundert Kilometer weit weg bin, wird er mich finden.« »Dann stehlen wir ein Auto«, schlug ich vor und war selber verblüfft über meine kriminelle Phantasie. »Das heißt, falls du fahren kannst. Ich kann es nicht.« Armand schüttelte den Kopf. »Fahren? Ich? Woher denn? Ich war über sechs Jahre quasi eingesperrt.« Er sah zu den ehemaligen Signalanlagen hinüber, die sich wie Scherenschnitte gegen einen halbdunklen Hintergrund abhoben. »Die funktionieren auch nicht mehr. Kein Strom.« Ich schwieg. Wie kam ich dazu, ihm Vorschläge zu machen? Zumal solche? Außerdem, wenn man das eben Gesagte weiterdachte, war der nächste Gedanke der, ein Auto mitsamt Fahrer zu entführen. Und unter keinen Umständen wollte ich diejenige sein, die ihn auf diese Idee brachte. »Ich habe das schon einmal erlebt«, sagte Armand in das kurze Schweigen hinein. »Wie die Polizei eine ganze Stadt abriegelt, meine ich. Radiodurchsagen, Lautsprecherwagen, Kontrollen an allen Straßen ...In Frankreich war das noch. Ich weiß nicht, ob sie es hier genauso machen, aber ich habe keine Lust, es herauszufinden.« »Verstehe«, nickte ich und fragte mich, was werden würde. Armand holte tief Luft und starrte wieder auf den Tunnel. »Ich muss in diesen Zug«, erklärte er. Ich musterte ihn, versuchte, herauszufinden, was er vorhaben mochte, und während ich noch rätselte, drang ein weit entferntes, tiefes Grollen und Rollen an mein Ohr. Armand horchte auch auf, sah auf die Uhr. »Es ist der Zug«, sagte er überflüssigerweise. Das Donnern kam mit jeder Sekunde näher. Wenn man stillstand, konnte man schon den Boden unter dem Gewicht des herankommenden Zuges erbeben fühlen. »Ich muss in diesen Zug«, schrie Armand auf. »Ich muss in diesen verdammten Zug!« In seinen Augen war ein geradezu wahnsinniger

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