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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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zu müde gewesen, um selber darauf zu kommen. In den letzten Stunden war ich von einer Aufregung in die nächste gehetzt worden, und wenn das in Dresden so weitergehen sollte, würde ich froh sein um jede Stunde Schlaf. Ich klappte die Armlehnen auf meiner Seite nach oben, sodass ich mich auf der Sitzbank ausstrecken konnte, streifte meine Schuhe ab, zog die Tasche unter meinen Kopf und deckte mich notdürftig mit meiner Jacke zu. Als ich einigermaßen bequem lag, war ich mir sicher, dass ich nicht würde schlafen können. Ich glaubte meine Nerven förmlich vibrieren zu spüren. Ich sah zu Armand hinüber. Er saß immer noch auf dem Platz neben der Tür und starrte gedankenverloren vor sich hin. Nun ja, wenn ich schon nicht schlafen konnte, dann wollte ich mich wenigstens ausruhen; das war besser als nichts. Ich schloss die Augen und lauschte dem monotonen Geräusch der Räder. Ich schlief tatsächlich nicht ein. Der Zug fuhr durch eine Stadt, farbige, unregelmäßige Lichtstreifen huschten geisterhaft über die Wände des Abteils, irgendwo in weiter Ferne war kurz ein Martinshorn zu hören, und der Zug wurde ein wenig langsamer. Ich verfolgte reglos, wie Armand aufstand und ans Abteilfenster trat, um hinauszusehen. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, und in dem diffusen, unruhigen Licht von draußen sah er plötzlich sehr fremdartig aus; wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ohne groß zu überlegen, fragte ich in die Dunkelheit und das Schweigen hinein: »Armand, bist du einsam?« Er zuckte nicht zusammen oder so etwas. »Ich dachte, du schläfst.« »Ich kann nicht.«
    Er schwieg. Der Zug wurde wieder schneller, die Lichter von draußen tanzten rascher über die Wände, die Gepäckablagen und die Vorhänge und erloschen schließlich, und Armand stand immer noch am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Ich wagte nicht, weiterzufragen. Vielleicht hatte ich wieder einen wunden Punkt berührt. Und irgendwann siegten dann doch die Müdigkeit und das einlullende Rattern der Räder und ich schlief ein. Aber es war ein leichter, traumloser Schlaf. Einmal wachte ich auf, ohne dass ich hätte sagen können, was mich geweckt hatte. Es war immer noch Nacht und der Zug fuhr immer noch gleichmäßig dahin. Armand saß mir gegenüber auf dem Platz am Fenster. Er war im Sitzen eingeschlafen. Ich betrachtete ihn nachdenklich und die seltsamsten Gedanken gingen mir durch den Kopf. Er wirkte eigentümlich verletzlich, wie er so schlief. Niemand hätte bei seinem Anblick vermutet, dass er etwas Besonderes war, dass er diese unheimliche, unerklärliche Gabe besaß, deretwegen man ihn verfolgte. Allmählich glaubte ich ihn zu verstehen. Jeder sah Armand, den Telekineten, und dieser Anblick war so faszinierend, dass man daneben Armand, den Menschen, völlig vergaß. Es musste so ähnlich sein wie bei einem berühmten Sänger oder Schauspieler, den Leute anhimmelten, ohne sich zu überlegen, dass er auch ein Mensch wie jeder andere war.
    Aber – so jemand hatte auch Freunde und Vertraute um sich, die ihn wirklich kannten und ihn nicht auf ein goldenes Podest stellten. Armand hatte das nicht. Wahrscheinlich war er nach sieben Jahren in diesem Institut sogar für seine Eltern ein Fremder. Und außerdem, überlegte ich bedrückt, war Armand tatsächlich kein Mensch wie jeder andere. Er musste entsetzlich einsam sein. So einsam, dass er es nicht einmal vor sich selber zugeben konnte. Diesem Dilemma würde er auch durch seine Flucht nicht entkommen, selbst wenn sie gelang. Er würde immer Armand, der Telekinet, bleiben. Als meine Gedanken so weit gekommen waren, machten sie auf einmal einen Knoten. Moment mal! Halt! Wenn man es genau überlegte, war eigentlich niemand ein Mensch wie jeder andere. Jeder ist etwas Besonderes allein dadurch, dass er er selber ist. Niemand ist austauschbar. Niemand kann ersetzt werden. Jeder Mensch ist einzigartig. Ich hatte das tröstliche Gefühl, dass diese Erkenntnis der Ansatz zur Lösung von Armands Problem war, aber ich kam nicht mehr dazu, genauer darüber nachzudenken, denn irgendwie verloren sich meine Gedanken und ich schlief wieder ein und der Zug bohrte sich unaufhaltsam weiter durch die Nacht. Das nächste Mal erwachte ich, als auf einmal grelles Licht um mich herum war. Es ist Tag!, dachte ich, drehte mich träge und verschlafen auf der Sitzbank und versuchte blinzelnd die Augen aufzubekommen. Aber es war nicht Tag. Es war nur die Deckenbeleuchtung, die jemand eingeschaltet hatte. Ein

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