Die seltene Gabe
ja.« Julien zog die Tür zum Gang auf. Ich schlüpfte rasch in meine Schuhe, dann ging es hinaus, zuerst ich, dann Armand, und Julien in sicherem Abstand. Die anderen Abteile lagen alle dunkel da, in einigen waren die Vorhänge zugezogen. Falls außer uns noch jemand in diesem Wagen war, schien er jedenfalls nicht zu bemerken, was hier vor sich ging. Wir bewegten uns langsam den Gang entlang, mehr taumelnd als gehend, weil der Zug gerade über eine sehr unruhige Strecke fuhr. Hinter mir hörte ich Armand mit schwerem, pfeifendem Keuchen atmen. Es klang, als bekäme er nicht genug Luft. War das eine Nebenwirkung des Mittels? Eine Menge wirrer Gedanken jagte sich in meinem Kopf. Woher kam dieser unheimliche Julien so urplötzlich? War er zugestiegen, während Armand geschlafen hatte? Aber wann denn – der Zug hatte doch seit Nürnberg nicht mehr gehalten? Und wie hatte er uns im Zug aufspüren können? Dieses Mittel, dieses Antipsychen – Julien musste damit gerechnet haben, Armand hier zu finden, wenn er es dabeigehabt hatte. Aber warum war er alleine? Alles sehr verwirrend. Auf jeden Fall näherte sich meine unfreiwillige Reise nun ihrem Ende.
Bloß konnte ich mich darüber nicht mehr freuen. Ich öffnete die Tür zum Vorraum, wo uns Kälte und das dröhnende Fahrgeräusch empfingen. Mich fröstelte. Für mich war das Ganze letztendlich nur ein Abenteuer gewesen, von dem ich in der Schule erzählen konnte, und vielleicht würde eine Zeitung etwas darüber schreiben. Aber Armand würde wieder zurückkehren in das Institut, man würde die Sicherheitsmaßnahmen verstärken, und wer mochte wissen, was eines Tages aus ihm wurde. Ich wollte gerade die Schiebetür zum nächsten Wagen öffnen, als ein Geräusch hinter mir mich herumfahren ließ. Es war Armand, der auf die Knie gefallen war und nun heftig würgend an der Wand lehnte, keuchend und mit von Panik erfüllten, weit aufgerissenen Augen. »Armand!« Im Nu war ich bei ihm, hockte neben ihm, hielt ihn umfangen und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich hätte doch den Erste-Hilfe-Kurs besuchen sollen, dachte ich hilflos. Dabei war kaum anzunehmen, dass irgendein Erste-Hilfe-Kurs einen auf den Umgang mit voll gedröhnten Telekineten vorbereitete. Julien gefiel das alles überhaupt nicht. Er fuchtelte mit seinem Schießeisen herum und rief: »Vas-y! Vas-y, pute!« Ich hatte keine Ahnung, was das hieß, aber wie es aussah, sollte ich, anstatt mich um Armand zu kümmern, aufstehen und weitergehen. »Écoutez!«, gab ich zurück, und dann kam ich schon ins Stocken. Wie ging das noch mal? Was wollte ich sagen? »Es geht Armand schlecht.« Also, »schlecht«, das hieß mauvais . Aber galt das auch im Sinne von »es ist jemandem schlecht«? Nein, dafür gab es ein anderes Wort – mal , genau. Und weiter? Mein Hirn war leer. Verdammt, da hatte ich seit Jahren Französisch in der Schule, und wenn es darauf ankam, brachte ich nicht einmal einen einfachen Satz zusammengebastelt! »Schlecht!«, schrie ich ihn also an und deutete auf Armand. »Es geht ihm schlecht, sehen Sie das nicht?
Mal! Très mal!«
Julien knurrte etwas, mit zornig gefurchter Stirn über den tierhaften Augen. Irgendwo war da eine rasche Bewegung, und das nächste, was ich weiß, ist, wie ein Schmerz in meinem Gesicht explodierte und ich haltlos umherwirbelte, um schließlich gegen die Stirnwand des Waggons zu knallen. »Scheiße«, murmelte ich, während ich an der stählernen Wand abwärts rutschte, mich seitwärts drehend und mit der Hand nach dem tastend, was mir da bedenklich feucht übers Gesicht lief. Blut. Ich blutete aus der Nase und die musste ich auch erst einmal abtasten, um sicher zu sein, dass sie noch da war. Panik schoss durch meinen Körper wie glühendes Feuer, als ich Julien wahrnahm, der über den am Boden kauernden Armand stieg und auf mich zukam, kochend vor Wut, fluchend, die Pranke mit der Waffe erhoben zum nächsten Schlag. Ich hob abwehrend die Hand, eine hilflose Geste, aber nein, nicht noch so ein Hieb! In diesem Augenblick geschah es. Armand stieß die Luft wie unter einer gewaltigen Anstrengung aus, und mit einem alles erschütternden Knall sprang die Waggontür auf. Fauchend brach der Fahrtwind herein, erfüllte den Raum zwischen den Türen mit seinem Tosen, und ich drehte den Kopf gerade noch schnell genug, um zu sehen, wie Julien durch die offene Tür in die Nacht hinausstürzte. Er kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Im nächsten Moment beugte
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