Die seltene Gabe
fragte behutsam weiter: »Was ist passiert?« »Sie sind gekommen und haben gesagt ›Armand, es ist so weit, Sie müssen eingreifen, die Sicherheit Europas steht auf dem Spiel‹.« Pause. Er starrte blicklos vor sich hin, schien alles noch einmal zu durchleben. »Und?«, hakte ich schließlich nach. Armand sah hoch, als erwache er aus einem Traum. »Sie haben gesagt ›Es gibt da einen Mann, an den wir nicht herankommen und der zum Schweigen gebracht werden muss, unbedingt. Wenn er redet, bringt das unsere Organisation in größte Gefahr. Sie, Armand, sind der Einzige, der uns helfen kann.‹« Er sah mich an. »Sie haben gesagt ›Helfen Sie uns‹, aber was sie eigentlich gemeint haben, war ›Töten Sie diesen Mann‹.« Mir war, als müsse ich aufpassen, das Atmen nicht zu vergessen vor Entsetzen. »Das ist . . . s chrecklich «, flüsterte ich. »Ja. Das ist es.« Aber so schrecklich es war, ich konnte nicht anders, ich musste es fragen: »Was für ein Mann war das?« Armand drehte sich um und zog die zusammengeknüllte Zeitung aus der Ablage herunter. »Du hast den Namen bestimmt schon gehört, er macht auch hier in Deutschland Schlagzeilen.« Er zerrte die Titelseite hervor, glättete sie halbwegs und hielt sie mir hin. »Hier. Jean-Marie Levroux.« Ich beugte mich verdutzt nach vorn. Im dämmrigen Schein des Nachtlichtes sah ich die Schlagzeilen und daneben das Foto eines vielleicht sechzigjährigen Mannes, der eine altmodische schwarze Hornbrille trug. »Den Namen habe ich schon gehört.« Die Nachrichten hatten von nichts anderem berichtet. In den letzten Tagen hatte ich deshalb meine Ohren auf Durchzug gestellt, wenn der Name Levroux im Fernsehen gefallen war. »Aber ich habe ehrlich keine Ahnung, wer das ist und was die Aufregung soll.« »Levroux ist ein ehemaliger Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes. In ein paar Tagen beginnt vor einem belgischen Gericht ein Prozess gegen einige führende Mitarbeiter diverser europäischer Geheimdienste, die angeklagt sind, mit illegalen Drogen gehandelt und Milliarden in die eigenen Taschen gewirtschaftet zu haben. Levroux ist der Hauptbelastungszeuge, mit ihm steht und fällt die ganze Beweisführung. Deswegen sitzt er im Augenblick in einem Brüsseler Gefängnis in Schutzhaft«, erklärte Armand. »Und ein paar sehr mächtige Leute, darunter einige, die Einfluss auf das Institut haben, würden es schätzen, wenn er dort eines plötzlichen, aber unverdächtigen Todes sterben würde.« »Und du solltest ihn umbringen!« »Ja«, sagte Armand. Er faltete das Zeitungsblatt und stopfte es zurück in die Ablage. »Das war es, was vor etwas mehr als zwei Wochen passiert ist.« Ich ließ mich ächzend rückwärts in die Polster fallen. »Ich glaube, an deiner Stelle würde ich mir wünschen, nie telekinetische Kräfte besessen zu haben.« Er schüttelte beinahe entrüstet den Kopf. »Oh nein, ganz bestimmt nicht! Das habe ich mir noch nie gewünscht. Verstehst du, meine telekinetischen Kräfte sind ein Teil von mir. Sie gehören zu mir. Sie haben praktisch mein ganzes Leben bestimmt. Ohne sie wäre ich ein völlig anderer Mensch. Sie sind wie mein Sehvermögen oder mein Geruchssinn oder so etwas. Man kann sie nicht einfach von mir abtrennen. Wenn ich mir das wünschen würde, käme mir das vor, als würde ich mir wünschen, blind zu sein oder gelähmt.«
»Aber hast du nicht oft das Gefühl, ein Außenseiter zu sein?« Er sah mich eigenartig an. »Ich bin ein Außenseiter. Das ist nicht nur ein Gefühl, das ist eine Tatsache. Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man anders ist als die Leute um einen herum.« Ich zögerte. »Scheint mir ein hoher Preis zu sein.« »Ich habe es mir ja nicht ausgesucht«, sagte Armand. »Die Telekinese ist ein Talent, mit dem ich auf die Welt gekommen bin. Niemand hat mich gefragt, ob mir das recht ist. So, wie auch du nicht gefragt worden bist, ob dir deine Eltern zusagen oder das Land, in dem du geboren bist, oder was auch immer. Mein Pech ist nur, dass mein Talent außergewöhnlich ist. Nur deshalb ist man hinter mir her und versucht über mein Leben zu bestimmen.« Wir schwiegen eine ganze Weile. Es ergab sich von selbst; ich wusste nichts zu sagen, er sagte auch nichts und meine Gedanken begannen zu wandern, bis Armand plötzlich auf seine Uhr sah und meinte: »Es ist schon spät. Du solltest versuchen ein bisschen zu schlafen.« »Und du?« »Ich werde Wache halten.« Schlafen? Das war eine gute Idee. Ich war nur schon
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