Die seltene Gabe
Schulklasse sitzt mindestens einer, der das kann.« Er beugte sich wieder vor. »Aber wie sollte das funktionieren, wenn Telekinese ein unsichtbarer Arm wäre? Hast du schon einmal versucht, einen Würfel mit der Hand so zu werfen, dass eine bestimmte Zahl oben liegt?« »Das geht nicht. Das ist ja gerade der Witz beim Würfeln.« »Eben. Aber für einen Telekineten ist es leicht. Telekinese ist Macht über Materie. Allerdings muss man ein anderes Verständnis davon gewinnen, was das überhaupt ist, Materie. Einer meiner Trainingsleiter, ein hutzliger alter Vietnamese, hat das immer so erklärt: In Materie drücken sich gewissermaßen Absichten aus, die das Universum hat. Was ein Telekinet kann, ist im Grunde, den Absichten des Universums seine eigenen Wünsche entgegenzusetzen; ein Wörtchen mitzureden, sozusagen. Nehmen wir das Beispiel mit den Würfeln. Wenn ein Würfel fällt, hat das Universum in erster Linie die Absicht, ihn unten ankommen zu lassen – welche Zahl er am Schluss zeigt, ist ihm dagegen egal. Deshalb kann selbst ein schwacher Telekinet das Ergebnis des Wurfs beeinflussen, während man einen starken Telekineten braucht, um den fallenden Würfel in der Luft aufzufangen. Weil das heißt, die Absicht des Universums, ihn wie jeden anderen Gegenstand nach unten fallen zu lassen, zu durchkreuzen.« Armand musterte mich, als habe er so seine Zweifel, dass ich kapierte, was er da redete. Und was soll ich sagen? Er hatte sie zu Recht. »Und deshalb«, fuhr er schließlich fort, »können manche Leute nur dann die richtigen Zahlen würfeln, wenn sie spielen. Weil sie die Wettkampfsituation brauchen, um es wirklich zu wollen.« »Hast du deshalb den Zug anhalten können? Weil du es in diesem Moment wirklich wolltest?« Er grinste dünn. »Das war ein bisschen anders. Weißt du, Materie ist etwas sehr Beeindruckendes. Man spürt Materie, geht es dir nicht auch so? Und eine tonnenschwere Lokomotive mit ihren Waggons stellt nun mal ziemlich viel Materie dar. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen , diese riesige Masse anzuhalten – und deshalb war ich auch nicht dazu im Stande. Erst, als mir die Idee kam, die Bremsen des Zuges zu betätigen. Das konnte ich mir vorstellen. Und weil ich es mir zutraute, konnte ich es auch.« Ich überlegte. Ein beunruhigender Gedanke kam mir.
»Heißt das, dass nur dein Vorstellungsvermögen deine Kräfte begrenzt? Dass du, wenn du dir alles vorstellen könntest, auch alles vollbringen könntest?« Ein schwer definierbarer Ausdruck trat in sein Gesicht. »Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Wenn diese Theorie stimmt, ja. Aber stimmt sie? Keine Ahnung. Abgesehen davon, kann man sich nicht aussuchen, wo die Grenzen des eigenen Vorstellungsvermögens verlaufen.« Das wühlte mich plötzlich richtiggehend auf. »Aber es kann sich doch entwickeln, oder? Und wenn du eines Tages so weit bist, dass du dir vorstellen kannst, die Erde aus ihrer Umlaufbahn zu werfen, stürzen wir alle in die Sonne.« »Die Leute im Institut haben eher in die andere Richtung gedacht. Ihnen schwebte vor, meine Vorstellungskraft dahin zu bringen, Atome miteinander zu verschmelzen. Die telekinetische Atombombenexplosion, mit anderen Worten. Und es ist erst ein paar Monate her, dass ich begriffen habe, wieso man mir jahrelang einen so intensiven Anatomieunterricht hat angedeihen lassen. Das war keine Vorbereitung aufs Abitur. Das war die Vorbereitung auf ein Dasein als perfekter Killer.« Mir fiel sozusagen der Unterkiefer runter. »Sie wollten einen Killer aus dir machen?« »Stell dir doch vor, wie praktisch das wäre. Ein missliebiger Diktator, der plötzlich eines unerklärlichen Todes stirbt. Und alles, was ich zu tun hätte, wäre, ir gendwo in der Menge zu stehen, die seiner Ansprache lauscht. Oder, wer weiß – vielleicht würde es sogar funktionieren, wenn ich zu Hause sitze und mir die Liveübertragung anschaue. Absolut unverdächtig, problemlos, friedenssichernd«, sagte er und fügte bitter hinzu: »Abgesehen davon, dass ich ein Mörder werden müsste.« Seine Stimme war dünn geworden, hatte einen gepeinigten Klang angenommen. Ich starrte ihn an, bis auf den Grund meiner Seele erschüttert. Die ganze Zeit hatte ich geglaubt zu wissen, warum er floh und wovor. Aber eigentlich, erkannte ich in diesem Augenblick, fing ich jetzt erst an zu ahnen, worum es wirklich ging. »Du hast vorhin gesagt, bis vor ein paar Wochen hätten sie dich fortprügeln müssen aus dem Institut«, sagte ich langsam und
Weitere Kostenlose Bücher