Die seltene Gabe
mit der er mich an der Schulter fasste, zitterte. »Ist alles in Ordnung? Wir müssen hier weg.«
»Ja«, nickte ich. »Mir ist nichts passiert.« »Dann komm.« Wir rutschten und schlitterten den Erdwall des Bahndamms hinab und hasteten von da aus weiter, hinaus in die unbekannte Dunkelheit. Ich streckte die Arme aus, um nicht plötzlich gegen ein Hindernis zu rennen. Meine Füße raschelten durch hohes Gras. Eine Wiese. Der Boden war weich, fast sumpfig, als wären wir in der Nähe eines Sees. Man sah nicht die Hand vor Augen. Wenn irgendwo vor uns ein Abgrund gelauert hätte, wären wir unweigerlich hineingestürzt. Aber es lauerte kein Abgrund. Nach einer Weile wurde der Boden stark abschüssig, und gleich darauf spürten wir blanke, festgefahrene Erde unter den Schuhen. Ein Feldweg. »Bleiben wir erst einmal hier«, meinte Armand heiser. »Wo bist du?« »Hier«, sagte ich in die Schwärze. »Gehen wir in Deckung, falls sie nach uns suchen.« Seine Hand kam von irgendwoher, berührte die meine. Er war außer Atem. Wir kauerten uns am Wegrand nieder und spähten in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Hell erleuchtet, stand der Zug in der Nacht. Jemand ging den Bahndamm entlang und leuchtete mit einer starken Taschenlampe umher. Fenster waren heruntergeschoben worden, Leute sahen heraus, und die aufgeregten Rufe und Fetzen ihrer Gespräche wehten bis zu uns herüber.
»Was die wohl denken, was passiert ist?«, überlegte ich. »Etwas Falsches auf jeden Fall«, meinte Armand halblaut. Es schien ihm, nachdem die Anspannung vorüber war, wieder schlechter zu gehen. Erst jetzt kam mir die nächtliche Kälte zu Bewusstsein, die unangenehm in die Kleidung kroch, je länger man reglos blieb. Na schön, wir hatten den Zug glücklich verlassen. Und? Nun hockten wir hier in der Dunkelheit und froren, wussten nicht, wo wir waren oder wo wir hingehen konnten, und Armand litt an den unbekannten Nebenwirkungen eines unbekannten Medikaments. Und ich kauerte am Boden und fühlte mich hilflos. Ich starrte hinüber zum Zug. Die Waggontüre wurde zugezogen, ein Mann in einer Uniform marschierte den Gang entlang und sprach mit den Leuten, die herumstanden. Dann ruckte die ganze Wagenreihe plötzlich an und der Zug fuhr weiter, wurde rasch schneller und war gleich darauf verschwunden. Und wir waren allein.
Kapitel 14 |
»Wir müssen hier weg«, sagte Armand matt. »Es kann nicht lange dauern, bis die Polizei auftaucht. Oder Schlimmeres.« »Meinst du?« »Sie werden die Bahngeleise absuchen, ob jemand aus dem Zug gestoßen wurde. Und ganz bestimmt werden sie den Vorfall nicht einfach auf sich beruhen lassen.« Ich hörte, wie er mühsam aufstand. »Und sobald Julien zu sich kommt, ist wahrscheinlich sowieso der Teufel los.« »Du bist dir so sicher, dass er den Sturz überlebt hat. Dabei hatte der Zug da garantiert über hundert Sachen drauf.« »Ach was, an Julien kann nicht viel kaputtgehen.« »Bei der Geschwindigkeit? Ich meine, als ich gesprungen bin, hat der Zug schon fast gestanden, und es hat mich trotzdem ordentlich hingehauen.« Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Nur dass uns das nicht viel weiterhelfen würde. Die Dunkelheit über uns war einen Hauch weniger dunkel als die Dunkelheit um uns herum, das war alles. Wir würden trotzdem bei jedem Schritt Gefahr laufen, uns den Hals zu brechen oder den Kopf einzurennen. »Warum hast du ihn überhaupt aus dem Zug gewor fen? Du hättest ihn doch einfach betäuben können, wie die beiden Bahnpolizisten in Stuttgart.« Ich hörte, wie Armand in seiner Umhängetasche kramte. »Zuerst wollte ich das auch«, erklärte er dabei. »Aber ich konnte ihn nicht mehr . . . spüren, verstehst du? Ich musste meine Kräfte auf etwas richten, das ich sehen konnte. Und es musste schnell gehen.« Es klickte metallisch und gelbliches Licht stach plötzlich durch die Finsternis. »Du hast eine Taschenlampe dabei?«, rief ich erleichtert. »Ja«, meinte Armand und ließ den fahlen Lichtkreis über den Weg vor uns wandern. Verlegen fügte er hinzu: »Sie gehört deinem Vater.« »Oh«, machte ich verdattert. »Tut mir Leid.« Ich seufzte und beschloss, mich auf das Nächstliegende zu konzentrieren. »Wohin sollen wir jetzt gehen? Wir wissen doch nicht einmal, wo wir sind.« Armand hüstelte. »Deshalb spielt es auch überhaupt keine Rolle, wohin wir gehen«, meinte er. Er leuchtete ein wenig in die Runde, dann ließ er den fahlen Lichtfinger in eine Richtung
Weitere Kostenlose Bücher