Die seltene Gabe
»Das vergeht wieder. Sobald das Antipsychen sich in der Blutbahn aufgelöst hat, lässt es bestimmt nach.« Er sah mich an, lächelte verkrampft. »Tut mir Leid mit deiner Nase. Ich wollte, ich hätte dich besser beschützen können vor diesem ...C rétin.« »Halb so wild.« »Es tut mir Leid«, wiederholte er hastig. »Alles, was passiert ist; dass ich dich gezwungen habe mitzukommen und so weiter. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennen gelernt, unter besse ren.« Er wirkte verlegen. »Das wollte ich noch sagen, ehe unsere Wege sich trennen. Für immer, fürchte ich.« Ich starrte ihn an und spürte mein Herz auf einmal bis zum Hals heraufschlagen. Und plötzlich stand auch mein Entschluss fest. »Warte«, sagte ich. Dann hastete ich in unser Abteil, schnappte unsere beiden Taschen, stopfte eilig eine Keksrolle hinein, die wir nicht leer gegessen hatten und die noch herumlag, und raste mit allem zurück zu Armand. Der Zug rollte immer noch. »Was tust du?«, fragte er, bleich wie eine Wand. »Ich werde nie wieder ruhig schlafen, wenn ich dich jetzt in diesem Zustand alleine in die Nacht hinausgehen lasse«, erklärte ich und hängte mir beide Taschen über die Schulter. »Also, wann hält dieser verdammte Zug endlich?« Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch es wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Schließlich schluckte er, räusperte sich, sah sich um und meinte: »Ich würde ihn ja gern anhalten, aber mein Gehirn ist schon völlig taub.« »Aber du bist sicher, dass wir hier rausmüssen?« »Absolut. Wenn wir jede Menge Zeit hätten, würde ich dir auch erklären, warum.« »Also gut«, seufzte ich. »Dann bin eben zur Abwechslung ich mal dran mit Zuganhalten.« Ich spähte hinaus in die Dunkelheit, aber da war nur Nacht; keine erleuchteten Straßen mehr, keine fahrenden Autos irgendwo, kein Mond und keine Sterne am Himmel. Nur noch Finsternis, schwarz und undurchdringlich. »Du?«, wunderte Armand sich. »Wie willst du denn das machen?« »Jetzt merkt man doch, dass du noch nicht oft Zug gefahren bist in deinem Leben«, sagte ich und umfasste den roten Griff der Notbremse. »Im Gefahrenfall ziehen – Missbrauch strafbar«, stand auf dem rot lackierten Metallgehäuse, mit dem der Griff verplombt war. »Ich hoffe, wir fahren nicht gerade über eine Brücke.« Ich zog. Die silbergraue Plombe zersplitterte und im selben Moment ging ein schrilles Kreischen von Metall auf Metall durch alle Waggons: die Bremsen. In dieser Sekunden wurden alle Fahrgäste entweder von dem durchdringenden, Nerven zerfetzenden Geräusch des bremsenden Zuges geweckt oder aber direkt aus ihren Schlafwagenbetten geworfen. Durch das anhaltende Bremsgeräusch hindurch wurden auf einmal Stimmen laut, dann hörte man das dumpfe Trampeln von Schritten. Jemand kam. Jemand, der mindestens Fragen stellen würde, wenn nicht mehr. Und der Zug bewegte sich immer noch. »Raus!«, zischte Armand. »Die Tür!« Ich presste den Türhebel hinab. Der Fahrtwind riss mir die Tür förmlich aus der Hand und ließ sie schwer gegen den Rahmen krachen. Immer noch huschten Kilometersteine und Grasbüschel durch den Licht streifen, der aus der offenen Tür fiel, mit einer Geschwindigkeit, die mir atemberaubend vorkam. Armand war plötzlich neben mir, hielt die Haltestange gepackt und stieg die Trittstufen hinunter. Der Zug war immer noch schnell, als er sprang, und ich sprang, ohne zu zögern, hinterher. Ich brach mir fast die Beine. Mir war nicht bewusst gewesen, wie unglaublich hoch so ein Eisenbahnwaggon in Wirklichkeit ist, wenn man nicht auf der bequemen Höhe eines Bahnsteigs aussteigt, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, die ich da durch die kalte Nachtluft flog, bis ich endlich unten ankam. Und dort riss mir eine unsichtbare Gewalt sofort den Boden unter den Füßen weg. Ich schrie auf, fiel hin, schürfte mir die Hände an scharfen Kiesbrocken auf, während über mir kreischend und schleifend das große dunkle Ungetüm von Zug dahindonnerte. Ein Alptraum. »Marie!«, rief jemand. Armand. Ich rappelte mich auf, tastete nach meiner Umhängetasche. Es war alles noch da. Ich sah hoch, wo der riesige Koloß mit einem letzten eisernen Aufschrei zum Stillstand kam. Auf der ganzen Länge des Zuges gingen nacheinander die Lichter hinter den Fenstern an. Ich sah Leute verschlafen und beunruhigt aus ihren Schlafwagenabteilen auf den Gang treten. »Marie.« Armand war neben mir. Er keuchte und erschrocken bemerkte ich, dass die Hand,
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