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Die seltene Gabe

Die seltene Gabe

Titel: Die seltene Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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geklungen wie eine unverschämte Lüge. Unser Klassenlehrer, zugleich unser Mathelehrer, zitierte mich nach Schluss der Stunde zu sich, um mir, nachdem alle gegangen waren, in seiner komisch verschraubten Art zu erklären, dass er durchaus Verständnis dafür habe, dass man gerade als junger Mensch einmal das Bedürfnis verspüre, über die Stränge zu schlagen. Trotzdem sei dies doch oft Ausdruck dessen, dass man sich in einer Krise befinde oder zumindest in einer schwierigen Phase, und ab da konnte ich seinen Gedankengängen nicht mehr richtig folgen. Es lief jedenfalls auf die Ermahnung hinaus, ich solle meine Hausaufgaben nicht vernachlässigen, denn seiner Erfahrung nach, erklärte er mir eindringlich, komme man über schwierige Phasen im Leben am besten hinweg, wenn man sich zwinge die Pflichten des Alltags weiterhin gewissenhaft zu erledigen. »Okay«, sagte ich. Ich konnte ihm schlecht erklären, dass ich meine Mathematikhausaufgaben stets äußerst gewissenhaft morgens vor Unterrichtsbeginn bei Jessica abgeschrieben hatte. Es erwies sich als praktisch unmöglich, irgendjemandem zu erzählen, was wirklich passiert war. Telekinese? Gedankenlesen? Geheimdienste?! Jetzt mal halblang. Im Kino ganz nett, aber das sollte man tunlichst nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Ich versuchte es bei Jessica, sobald wir uns wieder versöhnt hatten. Da sie zu dem Zeitpunkt schon fest mit Dominik zusammen war und im siebten Himmel schwebte, hörte sie mir sehr wohlwollend und geduldig zu. Doch als ich von fliegenden Münzen und Sonnenbrillen erzählte, konnte ich förmlich sehen, wie die Rollläden hinter Jessicas Augen heruntergingen. Und als ich von dem Institut anfing, meinte sie, nun sei es gut, verarschen könne sie sich selber, und für wie blöd ich sie eigentlich hielte? »Sie werden ja sehen, was Sie davon haben«, hatte der Mann vom MAD gesagt.
    Was ich in diesem Fall davon hatte, war, wieder einige Tage ohne beste Freundin zu sein. In den Wochen danach las ich alle Zeitungen und Zeitschriften, die ich in die Finger kriegen konnte, und das so sorgfältig, dass, würden gelesene Buchstaben verschwinden, ich am Schluss weißes Papier in Händen gehalten hätte. Ich schreckte nicht einmal davor zurück, zum Bahnhofskiosk zu pilgern und meine Sprachkenntnisse an englischen und französischen Zeitungen zu erproben. Doch ich entdeckte nicht den kleinsten Hinweis auf Armands Schicksal. Ich verfolgte das Ende der Affäre um Jean-Marie Levroux. Er sagte vor Gericht aus, worauf einige Männer, von denen man noch nie gehört und deren Gesichter man noch nie gesehen hatte, zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, und das war es. Danach verschwand der Name Levroux praktisch über Nacht aus den Medien. Die Wochen gingen ins Land, und nach und nach gewöhnte ich mich schweren Herzens an den Gedanken, dass ich, egal was passiert war, nie wieder etwas von ihm hören würde. Und je mehr Zeit verstrich, desto unglaublicher kam es mir selber vor, dass ich das alles nicht geträumt, sondern tatsächlich erlebt haben sollte. Mein Leben ging weiter. Der Sommer kam zögerlich, aber er kam, und auf einmal waren Eistüten, bauchfreie Tops und Nachmittage im Freibad wichtig. Dominik war längst kein Thema mehr für Jessica, der aktuelle Schwarm hieß Olaf, war fast zwei Meter groß und fuhr Motorrad. Doch aus irgendeinem Grund verspürte ich keinerlei Impuls, Jessica deswegen aufzuziehen. Es gab mir nur einmal einen Stich, nämlich als sie erzählte, dass Olaf und sie in den Sommerferien eine Zelttour nach Südfrankreich machen wollten. Doch das war nur ein Moment und im Nu vorbei. Der Sommer wich dem Herbst, und schließlich kam der Winter, ungewöhnlich früh in diesem Jahr. Zu Weihnachten bekam ich ein neues Paar Skier und fuhr über den Jahreswechsel mit Jessica und ein paar anderen zum Skifahren in die Alpen. Am Silvesterabend saßen wir in dicken Rollkragenpullovern in einer kleinen Skihütte um einen großen Topf Glühwein herum, und um Mitternacht gingen wir hinaus in den Schnee und sahen den Feuerwerken zu, die aus den Tälern himmelwärts stiegen. Über uns hing ein voller, fahler Mond und ich bekam feuchte Augen, ohne zu verstehen, warum. Nach Nebel und Matsch und einem eher mäßig ausgefallenen Halbjahrszeugnis brach ein kalter, nasser Frühling an. Meinen achtzehnten Geburtstag feierte ich bei strömendem Regen und neun Grad Tageshöchsttemperatur. Jessica schenkte mir einen selbst gestrickten Schal in der

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