Die seltene Gabe
Fläschchen Parfüm wieder ein, das ich gestern Abend eingesteckt hatte, als Waffe für den Notfall. Ich richtete mich auf, sah hinaus, sah das Gewimmel der Menschen draußen. Vor einem großen Kaufhaus wehten lange bunte Fahnen, die Sonderangebote verhießen. Unser Wagen kam immer noch nur schrittweise voran. Ich konnte . . . Ich würde . . . Ich ließ Armands Hand los, langte in die Tasche, zog den Parfümkolben heraus. Alkohol. Das war eine Waffe. Und so, wie der Kerl neben mir stank, eine absolut gerechtfertigte. Im praktisch gleichen Augenblick fing vorn am Funkgerät, das vor dem Beifahrersitz unter dem Armaturenbrett montiert war, ein rotes Licht an hektisch zu blinken. Einige Sekunden später kam ein nerviges Schnarrgeräusch dazu. Der Hagere bat seinen Gesprächspartner um einen Moment Geduld und drehte an dem Schalter, der die Frequenz wechselte. »Quoi?«, fragte er kurz angebunden. Eine aufgeregte, helle Stimme drang krachend und für mich völlig unverständlich aus dem Lautsprecher. Doch ich erkannte zumindest, wer da sprach, und es jagte mir Schauder über den Rücken. Es war Pierre. Auf einmal war mir klar, dass ich nur noch Sekunden Zeit hatte, das zu tun, was mir gerade eingefallen war. Ohne Zweifel hatte Pierre meinen Plan in meinen Gedanken gelesen und war im Begriff, seinen Boss zu warnen. Ich drehte mich zu dem Bewacher neben mir um und sagte zu ihm: »Ich muss mich übergeben!« Dabei tat ich, als würde ich ihm jeden Augenblick auf den Schoß kotzen. Er fuhr entsetzt zurück, presste sich gegen die Wagentür, dass sie auszubeulen drohte, und fing an, neben sich nach irgendetwas zu suchen, Spucktüten vermutlich. Doch da hatte ich meinem Parfümfläschen schon mit einem Ruck den Zerstäuberkopf abgebrochen und schüttete ihm den Inhalt – fünfundzwanzig Milliliter Freedom – mitten ins Gesicht. Mit einem Schmerzschrei fasste er sich in die Augen. Ich langte über seinen Schoß hinweg nach dem Türhebel. Ein Ruck, und die Tür ging auf. Mit aller Kraft stieß ich den Mann hinaus, sprang selber hinterher und rief Armand zu: »So renn doch!« Und Armand rannte. Sein Bewacher wollte ihn noch packen, aber Armand entglitt ihm irgendwie, kam wie ein Kastenteufelchen aus dem Auto geschossen und flitzte im nächsten Augenblick in halsbrecherischem Zickzackkurs zwischen den langsam rollen den, bremsenden, hupenden und stehenden Autos davon. Eine Sekunde später wimmelte es um mich herum von Männern mit Pistolen in Händen. Mehrere Hände ohne Pistolen packten mich an den Oberarmen und Handgelenken, bemüht, mich in den Wagen zurückzudrängen, von überall her wurden Befehle auf Französisch gebellt, und unter den Blicken zahlloser Passanten hasteten Männer in Lederjacken, ihre Pistolen deutlich sichtbar erhoben, über die befahrene Straße und Armand hinterher. Ich hatte ihn aus den Augen verloren, glaubte ihn noch einmal für einen Moment zwischen den Menschen vor dem Eingang des Kaufhauses zu sehen. Dann war er verschwunden. Wildes Gehupe ringsumher und quietschende Vollbremsungen. Der Hagere stand, das Mikrofon am Spiralkabel vor dem Mund, in der offenen Tür und herrschte mich an: »Steigen Sie endlich wieder in den Wagen!« Autofahrer kurbelten Scheiben herunter, reckten ihre Hälse, Schaulustige scharten sich am Straßenrand. Ich dachte nicht daran, einzusteigen. Mein Bewacher hatte sich aufgerappelt und stand fluchend, fast heulend abseits, sich die Augen reibend. Jeder, der ihm näher als drei Meter war, rümpfte die Nase. Bestimmt duftete er überaus apart. »Das wird Folgen für Sie haben!«, rief der Hagere mir quer über das Autodach zu. Ich zuckte mit den Schultern. »Verklagen Sie mich doch.« Aus dem ersten Wagen des Konvois stieg ein anderer Mann aus, ein wieselhaft wirkender, untersetzter Kerl mit auffallend kleinen Augen und starker Körperbehaarung. »Was ist mit Pierre?«, rief er. »Kann er ihn nicht aufspüren?« Er hatte einen ausgeprägten hessischen Akzent. Ein Franzose war das jedenfalls nicht. Der Hagere schüttelte finsteren Blicks den Kopf. »Armand steht unter Antipsychen, selbstverständlich. Seine Gedanken sind im Augenblick nicht deutlicher wahrnehmbar als die eines Goldfischs. Unter all den Leuten ist es aussichtslos.« Mein Herz machte einen Sprung. Das hieß, dass Armand gute Chancen hatte, zu entkommen! Himmel, wie ich ihm das wünschte. »Und das Mädchen? Weiß sie, was er vorhat?« Das Mädchen? Meinte der etwa mich damit? Der Hagere brabbelte etwas in sein
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