Die Seltsamen (German Edition)
Atem.
»Du wirst überhaupt nichts hören. Die gespaltenen Hufe auf den Dielen. Die Stimme in der Finsternis. Es wird dich holen kommen, und du wirst nicht das Geringste hören.«
Bartholomew schlug, in dem verzweifelten Versuch, das Gesicht auszusperren, die Hände vor das Fenster.
Aber sie lachte nur gequält und sang: »Du wirst seinen Ruf nicht hören. Du wirst es erst merken, wenn es zu spät ist, zu spät, zu spät!«
Bartholomew kippte hintenüber und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.
Am nächsten Morgen kam seine Mutter, während er noch im Bett lag, mit einem übelriechenden Breiumschlag herein und mit einem nassen Lappen für seine Stirn. Sie fragte ihn nicht, wo er gewesen war. Wenn er daran dachte – an das kleine Feenhaus auf dem Dachboden, an das runde Fenster und das Gesicht –, fühlte er sich gleich tausendmal schlechter.
»Mutter«, sagte er leise. »Mutter, hast du irgendwas von den Buddelbinsters gehört?«
»Von den Buddelbinsters?« Ihre Stimme war beinahe so heiser wie die seine. »Mach dir über die keine Gedanken. Wir sind auch so schon genug vom Pech verfolgt. Wir brauchen nicht noch das anderer Leute.«
»Pech?« Bartholomew setzte sich ein wenig auf. »Wegen ihrem Sohn?«
»Lass gut sein, Barthy. Leg dich ruhig hin. Nein, nicht der Sohn. Die Mutter. Der Kummer soll sie in den Wahnsinn getrieben haben, hat Mary Cloud erzählt, aber das ist nur Gerede. Wahrscheinlich ist sie an der Cholera gestorben. Die wütet jetzt überall in London.«
Seine Mutter legte ihm den Breiumschlag auf und ging hinaus. Erst fiel die Wohnungstür ins Schloss und dann die Haustür. Er hörte, wie Hettie durch die Küche trippelte, und dann klirrte eine Schüssel. Ein paar Minuten später kam seine Schwester zu ihm ins Zimmer. Sie hatte sich die Ärmel hochgekrempelt und sich mit dem roten Vogelbeerensaft, den Mutter verwendete, um die Wäsche nachzufärben, ineinander verschlungene Linien auf die Arme gemalt.
»Hallo, Barthy«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Bartholomew starrte sie an. Fast hätte er sie angeschrien. Was hast du denn da gemacht, Dummerchen? Was bist du doch für ein albernes Geschöpf!
Hettie lächelte in einem fort.
»Wo ist Mutter hingegangen?«, fragte er nach einer Weile.
Sie hörte auf zu lächeln und kletterte zu ihm aufs Bett. »Sie wollte fürs Frühstück ein paar Kohlrüben besorgen. Das wird schon wieder, Barthy.«
Bartholomew betrachtete Hetties Arme, die triefend rot neben seinen zarten Kringeln lagen. Da wurde ihm klar, warum sie das getan hatte.
»Na, sind wir nicht die elegantesten Leute in ganz Bath?«, sagte er, und dann gingen sie gemeinsam zum Waschbottich, und er half ihr, die Farbe wegzuschrubben. Bis Mutter mit den Rüben zurückkam, lächelten sie beide.
SECHSTES KAPITEL
Melusine
Pak, n. Feenjargon für »jemand mit einer langen Nase« oder Spion. (Nicht zu verwechseln mit der »puck« genannten Feengattung oder mit den »pooka«, jenen boshaften Gestaltwandlern, deren Gerissenheit und bestürzender Mangel an moralischer Zurückhaltung abermals die minderwertige Wesensart der Feen veranschaulicht.)
Mr. Jelliby knallte das Wörterbuch zu und vergrub das Gesicht in den Händen, wobei ihm der Lederband vom Schoß rutschte. Das Buch fiel auf den Teppich und blieb dort mit dem Rücken nach oben und mit zerknitterten Seiten liegen.
Ein leises Stöhnen entrang sich seinen Lippen. Sie glaubten, dass er herumspioniert hatte. Mr. Lickerish, Justizminister Ihrer Majestät, hielt ihn für einen Spion. Ausgerechnet ihn! Die Throgmortons und Lumbidules dieser Welt dachten sich bestimmt nichts dabei, wenn sie Türen einschlugen, um herauszufinden, was ihre Konkurrenten im Schilde führten. Aber Mr. Jelliby, der es schon ermüdend fand, morgens aufzustehen und der nicht das mindeste Interesse daran hatte, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, stand jetzt unter Verdacht. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm misstraute, und es war ihm über die Maßen unangenehm.
Seit er vor einigen Tagen Nonsuch House verlassen hatte, war er gedrückter Stimmung. Ophelia hatte dies fast sofort bemerkt, aber als sie fragte, was ihn bekümmerte, schwieg er sich aus. Er ging nicht mehr in seinen Club. Er empfing in seinem Haus am Belgrave Square keinen Besuch mehr. Bei der Premiere von Semiramide im Opernhaus Covent Garden blieb er der Loge seiner Familie ebenso fern wie dem Gottesdienst am Sonntagmorgen. Als Ophelia ihn schließlich zur
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