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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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war nicht Hetties Stimme. Eine solche Stimme hatte er noch nie gehört. Sie klang dumpf und erdig, und sie sang leise in einer Sprache mit vielen dünnen, spitzen Lauten. Während er ihr zuhörte, hatte Bartholomew das Gefühl, etwas Ungehöriges zu tun, als wäre der Gesang nicht für ihn bestimmt, als würde er heimlich lauschen. Aber die Melodie zog ihn sofort in ihren Bann. Sie kletterte die Tonleiter hinauf und hinunter, in einem Moment verführerisch und im nächsten wild, schlängelte sich aus dem Schrank heraus und erfüllte die ganze Wohnung. Sie erfüllte seinen ganzen Kopf, wurde lauter und schneller, bis er nichts anderes mehr hörte, bis nichts anderes mehr übrig war.
    Seine Augenlider waren bleischwer geworden. Vor seinen Augen tanzten Sterne. Das Letzte, woran er sich erinnerte, bevor er zu Boden glitt, war, dass sich die Tür zu Hetties Schrankbett ein Stück weiter öffnete. Eine dunkle, schwielige Hand schob sich heraus. Dann schlug sein Kopf auf dem Boden auf wie ein Stein, und Bartholomew schlief tief und fest.
    Am nächsten Morgen weckte ihn die Tür. Mutter kam mit einem Haufen Garnenden ins Zimmer, und das wurmzerfressene Holz krachte ihm gegen den Kopf. Mit einem Schrei sprang er auf.
    »Bartholomew Kettle, was machst du denn da auf dem Boden? Beim Licht der leuchtenden Linse, wofür hast du ein Bett? Ich hätte nicht übel Lust…«
    Er wartete nicht, bis sie ihm erklären konnte, wozu sie nicht übel Lust hatte. Er rannte bereits zur Tür hinaus und die Treppe zum Dachboden hinauf. Bitte, bitte, ich möchte eine Antwort haben. In seinem tiefsten Inneren befürchtete er, dass die Fee ihm keinerlei Beachtung schenken würde, dass er alles genau so vorfinden würde, wie er es zurückgelassen hatte.
    Aber dieses Mal war nichts mehr so, wie er es zurückgelassen hatte. Ihm stockte der Atem, als er in seine Giebelkammer kroch. Hier sah es aus, als hätte ein Sturm gewütet. Seine Schatzkiste lag offen da, und ihr Inhalt war überall auf dem Boden verstreut. Die Scherbenschnur war zu einem so festen, komplizierten Knoten zusammengebunden worden, dass er sie nie auseinanderbekommen würde. Das Stroh war aus der Matte herausgerissen und zwischen die Dachziegel gestopft worden. Hin und wieder schwebte, sanft und goldfarben in dem Licht, das durch das Fenster fiel, ein einzelner Halm herab. Die Feenbehausung war völlig zerstört. Die Zweige, die er über so viele Monate hinweg gesammelt hatte, waren in die Risse zwischen die Dielenbretter hineingetrampelt worden. Die Kirschen waren fort, ebenso der Löffel.
    Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, machte er ein paar Schritte in den Raum hinein. Etwas knisterte unter seinen Füßen. Es war sein Brief, der halb unter einem Efeuknäuel verborgen war. Er kniete sich hin und faltete ihn mit zitternden Händen auf.
    Seine Schrift war so schief und krakelig, dass er sich jetzt dafür schämte, und darum herum waren winzige schmutzige Fingerabdrücke, wie von einem kleinen Kind. Auf der anderen Seite, wie ein Fleck, der durch das gelbliche Papier hindurchschimmerte, stand eine Zahl. Eine einzige Zahl.

    Sonst nichts.
    Er starrte sie an, während das Stroh von der Decke herabrieselte, und da fielen ihm die Worte seiner Mutter ein. Die Worte, die sie an jenem Tag vor einigen Wochen gesagt hatte, als die pflaumenfarbene Dame ins Halbdunkel der Krähengasse gerauscht kam und er seine Mutter gebeten hatte, einen Hausgeist einladen zu dürfen.
    Und was ist, wenn du einen bösen heraufbeschwörst?

ACHTES KAPITEL

    Wie man Vögel fängt
    Zwanzig Minuten, nachdem der Feen-Gentleman Melusine aus dem Zimmer getrieben hatte wie eine bockige Ziege, kauerte Mr.   Jelliby noch immer in dem Kabinett. Er hielt die Augen geschlossen, und das Blut pulsierte im Rhythmus eines Parademarschs in seinem Kopf. Er hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Sein Gehirn schmerzte. Er war sich fast sicher, dass es jeden Moment aus seiner Nase herausgerutscht kommen und auf Tentakelfüßen durch das Zimmer davontrippeln würde.
    Die Dame in dem pflaumenfarbenen Kleid hatte ihn gesehen. Sie hatte ihm direkt in die Augen geblickt, und sie hatte nicht aufgeschrien oder Mr.   Lickerish auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht, wie es von einer Spießgesellin eines gemeinen Mörders zu erwarten gewesen wäre. Nein, sie hatte Mr.   Jelliby um Hilfe angefleht. Er sah noch immer ihre Lippen vor sich, wie sie diese drei Wörter bildeten, und die Verzweiflung in ihren glänzenden

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