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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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wurde, war er überhaupt nicht mehr kalt. Er sah aus wie ein Glas grüner Farbe. Dabei war er so dickflüssig wie Sirup und so süß, dass Mr.   Jelliby schier die Zähne auszufallen drohten. Er nahm zwei Schlucke, schob ihn beiseite und rieb sich die Augen. Was hatte er sich nur gedacht? Ein Gewehr? Der Vogel würde in tausend Stücke zerspringen. Er musste ihn vom Himmel herunterholen und fangen, und zwar möglichst ohne ihn zu beschädigen. Erst einmal musste er den Vogel jedoch aufspüren. Er wusste, dass solche Automaten nur von einem einzigen Ort aus losfliegen konnten und immer wieder dorthin zurückkehren mussten. Sie waren für eine ganz bestimmte Route gebaut; ihre Flügel hatten genau die passende Länge, ihre Zahnrädchen genau die passende Größe für eine ganz bestimmte Strecke und nur für diese. Die neueren Modelle wurden von kleinen Batteriefeen angetrieben, so viel wusste er. Sie waren mit einer mechanischen Landkarte ausgerüstet, die dafür sorgte, dass sie nicht in Kirchtürme oder Gerüstbrücken hineinflogen. Aber trotzdem musste ein solcher Vogel vom richtigen Ort, aus der richtigen Höhe und in die richtige Richtung losgeschickt werden. Dann flog er einfach so lange, bis seine Feder abgelaufen war. Deshalb hatte Mr.   Lickerish ihn offenbar auch vom Fenster des Büros hoch oben im Palast starten lassen. Nur ein paar Meter niedriger, und der Vogel wäre wahrscheinlich in irgendein Dachfenster gekracht.
    Eine Gruppe zerlumpter Kinder kam zwischen die Tische gelaufen. Sie kreischten laut und versuchten, ein paar Münzen zu erhaschen, bevor die Kellner sie wieder verjagten. Einer der Bengel blieb vor Mr.   Jelliby stehen; seine ausgestreckte Hand war so voller Dreck, dass ein kleiner Garten darauf hätte wachsen können. Mr.   Jelliby bot ihm das Glas grüne Farbe an, aber er verzog nur das Gesicht und rannte weiter.
    Mr.   Jelliby wandte sich wieder den Problemen zu, die ihn beschäftigten. Er musste lediglich die Flugbahn herausfinden, der der Vogel über den Dächern Londons folgte. Dann konnte er sich einen Ort aussuchen, um auf seine Ankunft zu warten. Vor seinem geistigen Auge sah er sich, wie er auf einem Kamin balancierte und mit einem Schmetterlingsnetz herumfuchtelte. Keine besonders angenehme Vorstellung. Hoffentlich wurde er dabei von niemandem gesehen.
    Er beugte sich ein wenig vor und kippte das dickflüssige grünliche Gebräu in den Rinnstein. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg nach Hause, wobei er sich eine ganze Weile ziellos durch die Straßen treiben ließ, den Blick aufs Pflaster gerichtet, den Hut tief in die Stirn gezogen. Leuchtend rote Lippen, reglos, in einem gepuderten Gesicht. Ein pflaumenfarbenes Kleid. Der kleine Zylinder, der ihre Augen verbarg. Mr.   Jelliby war so tief in Gedanken versunken, dass er bereits den Fuß auf die Treppe vor dem Eingang seines Hauses am Belgrave Square setzte, bevor ihm bewusst wurde, dass es angefangen hatte zu regnen und dass er bis auf die Haut durchnässt war.
    Am nächsten Morgen, nach einem guten Frühstück, das aus Würstchen und gebuttertem Toast bestand, strampelte Mr.   Jelliby auf seinem Fahrrad nach Westminster und stieg auf der Brücke ab, und zwar an einer Stelle, von der aus er die dem Fluss zugewandten Fenster des neuen Palastes sehen konnte. Er lehnte das Fahrrad gegen einen Laternenpfahl, verschränkte die Arme auf der Brüstung und beobachtete aufmerksam die Reihen von Fenstern. Sie wurden nur selten geöffnet. Wenn doch, reckte Mr.   Jelliby jedes Mal den Hals und kniff entschlossen die Augen zusammen, aber das Einzige, was er zu sehen bekam, waren verschwitzte, aufgeregte Gesichter und einmal den Frack eines Gentleman. Der Frack fiel in den Fluss und wurde von einem Schiffer herausgefischt, der ihn, tropfnass, wie er war, sofort anzog.
    Die Blumenverkäuferinnen um ihn herum schüttelten immer öfter den Kopf über ihn. Ein Polizist warf ihm jedes Mal, wenn er an ihm vorbeistolzierte, einen argwöhnischen Blick zu. Nach sechs Stunden hielt Mr.   Jelliby es nicht mehr aus und radelte, müde und enttäuscht, nach Hause, gerade als die Flammenfeen in den Straßenlaternen eine nach der anderen aufloderten.
    Sechs Tage dauerte es. Sechs Tage lang starrte er die Fenster des Palastes an wie ein Wahnsinniger, bevor sich endlich eines hoch oben unter der Traufe öffnete und eine kleine Kugel aus Triebfedern und Messing auf den Fluss herausflatterte.
    Sobald Mr.   Jelliby das sah, rannte er los. Er ließ

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