Die Seltsamen (German Edition)
langer Zeit war das pflaumenfarbene Kleid ein fabelhafter Anblick gewesen, maßgeschneidert, um die Aufmerksamkeit von Männern und Frauen auf sich zu ziehen. Es musste ein Vermögen gekostet haben.
Er schlenderte in das Labyrinth der Marktstände in Charing Cross hinein und ließ sich von den Verkäufern umschwärmen. Dabei nahm er die Tische voller Aufziehpuppen kaum wahr, auch nicht die Brezeln und Äpfel mit Zuckerguss, und nicht einmal die Handspiegel, in denen man hübscher aussah, als man in Wirklichkeit war. Von allen Seiten wurde er angerempelt. Schmutzige Gesichter plärrten aus nächster Nähe, wichen wieder zurück und verschwanden dann zwischen den Frackschößen. Eine winzige Feenfrau mit wallendem grünen Haar stand plötzlich vor ihm. Auf dem Rücken trug sie etwas, das wie ein Bündel Spazierstöcke aussah.
»Einen Regenschirm für den Herrn«, sagte sie und entblößte ihre spitzen Zähne. »Einen Regenschirm, um trocken zu bleiben?«
Mr. Jelliby lachte. Es war kein fröhliches, unbeschwertes Lachen, wie es ihm sonst eigen war, aber mehr brachte er im Moment nicht zustande. »Regen? Madam, das Wetter könnte nicht schöner sein.«
»Sehr richtig, mein Herr, aber das wird es nicht bleiben. Bald ziehen Wolken auf, vom Norden her. Bis heute Abend sind sie hier. Das hat mir erst vor einer Stunde eine Schwarzdrossel verraten.«
Mr. Jelliby hielt inne und betrachtete die Feenfrau neugierig. Dann warf er ihr einen Viertelpenny zu und stürzte sich mit neuem Schwung ins Gedränge.
Eine Schwarzdrossel hatte ihr das verraten. Ein Vogel. Vögel wussten alles Mögliche. Was wohl Mr. Lickerishs Vogel wusste – der kleine Automat, der aus dem Fenster des leeren Büros hinausgeflogen war? Einmal angenommen, Mr. Jelliby bekam ihn zu fassen? Was für eine Botschaft mochte die glitzernde Kapsel enthalten? Und zu wem war der Vogel so eilig unterwegs? Vielleicht nicht direkt zu Melusine, aber wenigstens zu jemandem, den sie kannte? Einem Bundesgenossen vielleicht? Jedenfalls war es eine Spur, etwas, dem er folgen konnte.
Er musste diesen Vogel unbedingt fangen. Wenn er ihn erst einmal hätte, würde der Vogel ihn hoffentlich zu Melusine führen. Und nachdem er sie heldenhaft gerettet hatte, würde er doch bestimmt auch einen Weg finden, Mr. Lickerish Einhalt zu gebieten. Das allerdings klang weniger verlockend. Es klang sogar ein wenig gefährlich. Der Hochelf war kein marodierender Mordgeselle, der in nebeligen Nächten in den Gassen von London herumschlich. Man konnte nicht einfach einen Schutzmann losschicken und ihn verhaften lassen. Er war der Justizminister der Königin. Er war reich und mächtig, und wenn er wollte, konnte er Mr. Jelliby wie eine Laus mit dem Daumen zerquetschen. Das Gesetz würde Mr. Jelliby nicht beistehen. Nicht gegen einen Sídhe.
Aber genug davon. Er musste endlich aufhören, Trübsal zu blasen und sich den Kopf zu zerbrechen. Ein Vogel wollte gefangen werden. Allerdings hatte Mr. Jelliby keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er setzte sich da, wo der Strand in den Trafalgar Square mündete, in ein Kaffeehaus und zerbrach sich noch ein wenig mehr den Kopf.
Na schön, er konnte das Ding vom Himmel runterschießen. In seinem Arbeitszimmer hing über dem Kamin eine alte Jagdflinte. Aber das Gewehr war riesig, und selbst wenn es ihm irgendwie gelang, es nach Westminster hineinzuschmuggeln, wäre der Schuss in ganz London zu hören. Dann lag da noch ein Paar spanischer Pistolen in der Vitrine im Vestibül. Und die kleine Pistole, die er zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie hatte einen Perlmuttgriff, und der Lauf war mit echten Rubinen und Opalen verziert. Er wusste nicht, ob sie wirklich funktionierte. So hübsche Dinge taten das selten.
Ein Kellner in altmodischen Kniehosen und einem Bratenrock trat an seinen Tisch, und Mr. Jelliby bestellte einen dieser neuartigen tropischen Drinks, von denen es hieß, sie seien »zuckersüß, eiskalt, regenbogenbunt und doppelt so lecker«. Im Sommer, wenn die aschgrauen Wolken sich wie ein Deckel über den Häusern schlossen und nicht die leiseste Brise vom Fluss herüberwehte, konnte es in London drückend heiß sein. Selbst hier, wo die Hauptverkehrsadern der Stadt breiter waren als fast überall sonst, war die Luft zum Schneiden dick. Es stank nach Zwiebeln und ungewaschener Haut. Der gestärkte Kragen von Mr. Jellibys Hemd war bereits ganz feucht von Schweiß.
Bis sein Drink serviert
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