Die Seltsamen (German Edition)
Augen.
Helfen Sie mir. Ebenso gut hätte sie es schreien können. Aber wie sollte er ihr helfen? Wer war sie?
Langsam und vorsichtig öffnete er die Tür des Kabinetts und spähte hinaus. Das Zimmer wirkte geradezu lächerlich einladend. Warmes Sonnenlicht schien durch die Fensterscheiben herein und bildete auf dem Boden ein Muster. Alle Düsterkeit schien mit dem Feenwesen und der pflaumenfarbenen Dame verschwunden zu sein.
Mr. Jelliby trat aus dem Kabinett. Fast hätten seine Beine unter ihm nachgegeben, und er musste sich an den Schrank klammern, um nicht zu stürzen.
Er begriff rein gar nichts. Er begriff nicht, woher die frostige Stimme gekommen war und was das ganze Gerede über Hagebutten und Zahlen zu bedeuten hatte. Aber er konnte doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Hatte die Dame ihn nicht davor bewahrt, entdeckt zu werden? Er war es ihr schuldig, irgendetwas zu tun. Eigentlich sprach nichts dagegen, dass er sie rettete. Heimlich, still und leise natürlich. Es gab keinen Grund, sich dabei besonders ins Zeug zu legen. Ophelia würde es bestimmt nicht gefallen, wenn er fremden Damen in schmutzigen Kleidern nachstellte.
Er machte ein paar unsichere Schritte, um die Nadeln in seinen Beinen loszuwerden, und ging dann zur Tür.
Melusine. Was für ein sonderbarer Name! War er französisch? Nein, das war Mélisande. Er würde es nachschlagen müssen, sobald er zu Hause war. Oder Tante Dorcas fragen. Sie würde es wissen. Sie wusste alles. Tante Dorcas war die Schwester seines Vaters. Sie hatte einen Kanzleischreiber geheiratet und wohnte in drei gemieteten Zimmern in Fitzrovia; weil sie nicht annährend so wohlhabend war, wie sie es gerne gewesen wäre, tröstete sie sich damit, alles über jeden zu wissen, der es war. Tante Dorcas war, in jeder Beziehung, ein Gesellschaftslexikon im Hauskleid. Wenn es irgendeine bedeutende Dame namens Melusine gab, wusste sie es bestimmt.
Mr. Jelliby streckte den Kopf zur Tür hinaus, schaute in die eine Richtung und in die andere Richtung, trat dann hinaus und eilte erhobenen Hauptes davon. Verflixt, dachte er verzweifelt. Verflixt und zugenäht. Die Sitzung des Staatsrats hatte schon vor einer Ewigkeit begonnen. Jetzt konnte er auf keinen Fall mehr unbemerkt hineinschlüpfen.
Er ging denselben Weg zurück, den er gekommen war, durch endlose hallende Korridore, bis er sich wieder in dem Flügel des Gebäudes befand, in dem der Rat tagte. Jetzt war die Haupthalle menschenleer. Er legte die Hand auf den Messingknauf und den Kopf an das kühle Holz der Tür. Die dumpfe Stimme des Vorsitzenden war nicht zu überhören. Ein Satz. Eine Pause. Drei Sätze und noch eine Pause. Ein Stuhl knarrte laut. Keine Wortgefechte oder Diskussionen. Wahrscheinlich langweilten sich alle zu Tode. Wäre es nicht eine tolle Abwechslung, wenn dieser Arthur Jelliby genau jetzt hereinkommen würde? Natürlich viel zu spät. Wahrscheinlich musste er noch rasch jemanden ausspionieren…
Er konnte diese Tür nicht öffnen. Das war völlig unmöglich. Er würde ins Kaffeehaus gehen, sich eine Stunde hinter einer Zeitung verstecken und dann nach Hause gehen und… Ophelia würde sehr unzufrieden mit ihm sein. Sie würde ihn fragen, wie es ihm ergangen war, und er würde Lüge auf Lüge häufen. Aber Lügen war bestimmt einfacher als das hier. Er brachte einfach nicht den Mut auf, diese Tür zu öffnen und an den ganzen neugierigen Blicken vorbeizumarschieren. Außerdem war Mr. Lickerish da drin. Wie es Mr. Jelliby gelingen sollte, in Gesellschaft dieser garstigen Kreatur jemals wieder ruhig dazusitzen, war ihm ein Rätsel.
Ein eleganter Gentleman, der einen Hut aus einem riesigen Pilz trug, nahm Mr. Jelliby die Entscheidung ab. Ohne einen weiteren Gedanken ging er in die entgegengesetzte Richtung.
Nachdem er den Mauern von Westminster entkommen war, fühlte sich Mr. Jelliby, im emporwirbelnden Rauch und Sonnenschein und vom Lärm der Großstadt umgeben, beinahe schwerelos. Schlechte Luft hin oder her, er atmete mehrmals tief ein. Dann machte er sich auf den Weg nach Whitehall, wobei seine Finger mit der Uhrenkette spielten, die aus seiner Westentasche baumelte.
Wenn er Melusine finden wollte, brauchte er einen Plan. Vielleicht war sie entführt worden oder das Opfer einer Erpressung. In diesem Fall würde Tante Dorcas ganz sicher über sie Bescheid wissen. Wahrscheinlich kannte sie die Dame sowieso, denn sie war offenbar einmal sehr reich gewesen. Vor nicht allzu
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