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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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sein Fahrrad ebenso zurück wie seinen Hut – die Blumenverkäuferinnen johlten und tippten sich gegen die Stirn – und spurtete über die Brücke.
    Genau wie zuvor flog der Vogel direkt auf den Wald aus Dachgiebeln und Schornsteinen am Ostufer zu. Mr.   Jelliby lief in den Verkehr auf der Lambeth Road hinein, ohne dem Gehupe und den wütenden Schreien irgendwelche Beachtung zu schenken. Eine Dampfkutsche sauste nur Zentimeter vor seiner Nase vorbei, doch er zuckte kaum zusammen. Er durfte den Vogel nicht aus den Augen verlieren. Nicht jetzt.
    Zu seinem Glück war es kein echter Sperling. Mit seinen schweren Metallflügeln kam er nur langsam voran, ganz gleich, wie hektisch sie auch schlagen mochten, und er stürzte sich auch nicht auf Würmer oder Insekten herab, die sich im Mauerwerk verbergen mochten, wie es Vögel aus Fleisch und Blut getan hätten. Mr.   Jelliby konnte fast mit ihm Schritt halten, wenn er so schnell rannte, wie es ihm möglich war.
    Leider war das nicht besonders schnell. Seit einer Fuchsjagd auf dem Landsitz von Lord Peskinborough vor einigen Jahren war er nicht mehr richtig gerannt. Damals hatte er eine Meinungsverschiedenheit mit seinem Pferd gehabt – das Pferd wollte in die eine, er in die andere Richtung; mit dem Ergebnis, dass das Pferd ihn seinem Schicksal überlassen hatte, damit er ganz allein entscheiden konnte, welche Richtung er einschlagen wollte.
    Er bog in eine Seitenstraße ein, wobei seine Füße über das Pflaster schlitterten. Das Kinn hatte er himmelwärts gereckt, sodass er nichts sah außer dem Vogel hoch droben. Jemand prallte buchstäblich von ihm ab, und er hörte, wie dieser Jemand gegen eine Schaufensterscheibe plumpste. Die Leute riefen ihm etwas nach, lachten und johlten. Ein grobschlächtiger Mann mit Metallzähnen packte ihn am Arm und wirbelte ihn herum. Mr.   Jelliby schüttelte ihn ab, nur um mit einer molligen Dame zusammenzustoßen, die einen Sonnenschirm schwang. Die Dame kreischte los. Das Bündel, das er für einen Muff gehalten hatte, stieß ein Jaulen aus, und eine Vielzahl von Päckchen in buntem Einwickelpapier regnete auf ihn herab. Er blieb nicht stehen.
    »Verzeihung! Ich muss hier durch! Bitte entschuldigen Sie!«, rief er und schubste einen rußgeschwärzten Schornsteinfeger beiseite.
    Da war er. Mr.   Jelliby erhaschte einen Blick auf Federwerk und Messing, der Vogel schoss über den Streifen Himmel zwischen zwei Dächern hinweg, und dann war er wieder fort.
    Er musste auf eine andere Straße gelangen. Verdammt, diese hier führte in die falsche Richtung!
    Er entdeckte eine dunkle Gasse, die sich durch ein Häuserdickicht schlängelte, und stürzte sich hinein. Wäsche, die von saurer Lauge triefte, klatschte ihm ins Gesicht. Straßenkinder stoben schreiend vor ihm auseinander und verschwanden in irgendwelchen Schlupfwinkeln wie Käfer, die vor einem Besen Reißaus nehmen. Ein abgebröckelter Rinnstein hätte seiner wilden Jagd beinahe ein Ende gesetzt, aber er sprang darüber hinweg und stolperte auf eine helle, breite Straße hinaus.
    Der Vogel? Wo war der Vogel? Mr.   Jelliby blieb keuchend stehen, drehte sich im Kreis und suchte die Dächer ab.
    Dort. Er hatte ihn überholt. Der Automat flog über die Dachfirste auf ihn zu, als hätte er alle Zeit der Welt. Mr.   Jelliby stürzte in das kühle Halbdunkel eines Torbogens – eine beinlose Fee krabbelte in Sicherheit – und krachte durch eine Tür. Dann ging es mehrere Treppen hinauf, einen Korridor entlang, und wieder mehrere Treppen hinauf, die so wacklig waren, dass er den Eindruck hatte, sie würden jeden Moment unter ihm nachgeben. Dritter Stock, vierter Stock… Er musste auf den Dachboden gelangen, ein Fenster finden und den Vogel im Flug zu fassen bekommen. Das war die einzige Möglichkeit.
    Die Stufen endeten vor einer niedrigen, schiefen Tür, von der die weiße Farbe abblätterte. Er hämmerte dagegen, der Riegel auf der anderen Seite gab nach, und sie ging knarrend auf. Dahinter kam ein recht hübsches Zimmer zum Vorschein. Ein winziges Zimmer unter der Dachschräge, sauber und aufgeräumt, mit Porzellan in einer Vitrine und einer schneeweißen Decke auf dem Tisch. Daneben saß, über einen Stickrahmen gebeugt, eine ältere Dame. Als er hereinplatzte, sah sie gelangweilt auf, als wäre sein Eindringen das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt.
    »Verzeihen Sie, Madam, ich werde Sie nicht lange stören, das ist mir wirklich sehr unangenehm, nur einen Augenblick, darf

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