Die Seltsamen (German Edition)
ich Ihre Fenster öffnen?«
Er wartete nicht auf eine Antwort. Mit zwei Schritten hatte er das Zimmer durchquert. Er riss das Fenster auf, sodass die Scheibe erbebte und der Rahmen gegen die Giebelwand knallte, und streckte den Kopf hinaus.
Dort war der Vogel. Er kam die Straße entlanggeflogen! In drei Sekunden würde er vorbei sein und über die qualmende Stadt davonflattern. Aber er konnte ihn erreichen. Wenn er sich ganz weit hinauslehnte und seine Finger ausstreckte, würde der Vogel ihm direkt in die Hände fliegen.
Wild mit den Armen rudernd, beugte er sich über den Sims und über die Straße. Fünfzehn Meter unter ihm blieben die Leute stehen und deuteten zu ihm hoch. Jemand schrie. Mr. Jelliby sah den Vogel heranschießen – aus der Nähe wirkte er plötzlich einigermaßen furchterregend –, und dann… Autsch! Hatte das Biest eine Kraft! Die Flügel hörten nicht auf zu schlagen, und das hauchdünne Metall des Gefieders schnitt ihm in die Finger. Er riss den Vogel zu sich heran und warf sich rückwärts in die Dachstube der alten Frau. Der Automat befreite sich aus seinem Griff und flog durch das Zimmer; in der lavendelfarbenen Traulichkeit der Wohnung wirkte er völlig fehl am Platze. Er krachte gegen die Wand, wurde zu Boden geschleudert und blieb dort liegen, wobei er weiterhin mit den Flügeln schlug.
Mr. Jelliby starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schnappte nach Luft.
»Harald?« Die alte Frau stand neben ihm und hatte ihm die Hand auf den Ärmel gelegt. »Harald, mein Schatz, du bist spät dran«, sagte sie. »Es ist Zeit für deinen Tee.«
Mr. Jelliby widersetzte sich nicht, als sie ihn zum Tisch führte. Es war alles angerichtet – zwei Tassen, zwei Teller, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose und eine Stachelbeertorte, als hätte sie die ganze Zeit nur auf ihn gewartet.
Und so tranken sie Tee miteinander und schauten schweigend zu, wie der Metallvogel zu ihren Füßen sich in seine Bestandteile zerlegte.
Als er nicht mehr flattern konnte, stieß er ein jämmerliches Maunzen aus, öffnete den Schnabel und hustete einen Tropfen goldenes Licht, der sich zischend wie ein Kreisel drehte, bevor er erlosch wie ein Stern, der von einer Wolke verdeckt wird.
»Oh«, sagte die Dame und stellte ihre Tasse beiseite. »Jetzt ist er tot. Harald, sei so lieb und bring ihn mit der Kehrschaufel hinaus! Ich möchte nicht, dass er auf dem schönen Teppich verwest.«
NEUNTES KAPITEL
In Asche
Bartholomew Kettle kauerte auf dem Boden seiner zerstörten Zuflucht. Er hatte einen Entschluss gefasst. Heute Nacht würde er den aufsässigen Hausgeist fangen. Er würde das kleine Biest stellen, und ob es nun gut oder böse war, er würde es zwingen, ihm zu gehorchen. Ganz offensichtlich wollte es nicht sein Freund sein, und daran konnte er nichts ändern. Aber wenn es glaubte, es könnte ihn an der Nase herumführen, seine Schätze kaputtmachen und Hettie Angst einjagen, dann hatte das Biest sich geirrt. Bei Einbruch der Nacht, wenn es mit der Finsternis und dem Mondlicht herbeigeschlichen kam, würde er bereit sein.
Doch an jenem Abend kam erst noch jemand anderes, und Bartholomew sah sich gezwungen, seine Pläne aufzuschieben. Schwere Stiefel schlurften die Treppe herauf, das Licht einer Laterne leuchtete unter der Wohnungstür hervor, und Agnes Skinner, die ein paar Häuser weiter wohnte, schaute auf eine Tasse Tee vorbei. Bartholomew und Hettie wurden in das winzige Zimmer gescheucht, in dem Bartholomew schlief, und die Tür hinter ihnen verriegelt.
Bartholomew setzte sich auf den Boden, den Rücken gegen die feuchtkalte Wand gelehnt, und wartete darauf, dass die Stimmen in der Küche lauter wurden. Ihm graute es vor Besuch. Er hielt das für töricht, andere Leute in die Wohnung zu lassen – es war, als würde man einen Wolf in ein Zimmer voller Vögel bitten. Aber Wölfe konnten auch interessant sein. Manchmal hörte er eine Silbe oder ein ganzes Wort, und darüber dachte er dann tagelang nach. Manchmal wünschte er, er könnte in der Küche sitzen, zuhören und Tee trinken.
Solange der Wolf keine Fragen stellte.
Nur wenige Menschen wussten, dass Betsy Kettle zwei Kinder hatte, und Agnes Skinner war eine von ihnen. Gib acht, dass dich niemand bemerkt, dann landest du auch nicht am Galgen. Es brauchte nicht viel, um aufzufallen – zu weiße Haut, ein wenig Pech oder eine Gans, die keine Eier mehr legte. Dann würden die Leute aufhören, Mutter im Treppenflur einen guten Morgen zu
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