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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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genauso und ihre Hände und Füße auch. In Wirklichkeit war sie nichts anderes als ein kariertes Schnupftuch.
    »Wie sieht er aus, Hettie?« Bartholomews Stimme war kaum ein Flüstern. Mrs.   Skinner durfte sie nicht hören. Mutter hatte ihr wahrscheinlich erzählt, sie würden schlafen. »Hettie, wie ist der Lumpenkerl so?«
    »Zerlumpt«, sagte sie und tanzte mit ihrem Schnupftuch in eine andere Ecke. Offenbar hatte sie nicht vor, ihm zu verzeihen, dass er sie unter der Treppe hatte sitzenlassen.
    »Psst! Sei bitte still, ja? Hör mal, Hettie, es tut mir leid. Das hab ich dir schon gesagt, und ich hätte nicht einfach so weglaufen dürfen. Bitte erzähl’s mir doch.«
    Sie sah ihn unter den Zweigen hervor an. Fast konnte er die Zahnräder hören, die sich in ihrem Kopf drehten, während sie überlegte, ob sie ihn ignorieren sollte, was er durchaus verdient hatte, oder ob sie den Triumph genießen und ihm erzählen sollte, was er so unbedingt wissen wollte.
    »Er steht nicht gerade«, sagte sie nach einer Weile. »Er ist ganz krumm und dunkel, und sein Hut ist oben aufgeplatzt. Ich kann ihn nie richtig sehen, und wenn er atmet, klingt es, als hätte er Wanzen im Hals, und…« Sie hatte Schwierigkeiten, es in Worte zu fassen. »Und die Schatten schleichen ihm nach.«
    Also keine durchscheinenden Flügel. Gar nicht nett. Was für ein Narr war er doch gewesen. »Oh. Na gut. Hat er dir irgendwas erzählt? Wovon handeln seine Lieder?«
    Selbst im Dunkeln konnte Bartholomew sehen, wie ihr Blick kalt und ausdruckslos wurde. »Darüber will ich nicht reden.« Sie wandte sich ab, drückte sich ihre Puppe gegen die Wange und schaukelte sie wie ein kleines Kind.
    Bartholomew bekam ein mulmiges Gefühl: Das war alles seine Schuld. Der Lumpenkerl und seine Tricks. Und nun musste statt seiner Hettie es ausbaden. Sein schlechtes Gewissen verwandelte sich in Wut.
    »Na ja, hat er dir erzählt, wer er ist? Hat dir das kleine Biest überhaupt irgendwas erzählt?«
    Zu spät wurde ihm bewusst, dass er es lauter gesagt hatte als beabsichtigt. Auf der anderen Seite der Tür wurde es still. Er hörte, wie seine Mutter sich räusperte.
    »Wie geht es denn deinen Kindern, Betsy?«, fragte Mrs.   Skinner schließlich. Bildete sich Bartholomew das nur ein, oder hatte ihre Stimme einen unangenehmen Unterton? »Mary hat erzählt, dass sich dein Junge andauernd auf dem Dachboden herumtreibt. Und das Mädchen hat sich den ganzen Sommer über nicht blicken lassen.«
    »Sie waren krank«, sagte Mutter knapp. Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Dann knallte der Korken wieder, gefolgt von einem Gluckern, und Bartholomew konnte der Stimme seiner Mutter anhören, dass sie lächelte. »Aber nichts Beunruhigendes. Die sind bald wieder auf den Beinen. Jetzt erzähl mal von dir. Die Geschäfte laufen in letzter Zeit recht gut, wenn ich mich nicht täusche?«
    Bartholomew atmete langsam aus. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er die Luft angehalten hatte. Gute Idee, dachte er. Mrs.   Skinner erzählte nur zu gerne von ihren ›Geschäften‹.
    »Ach, ich kann mich nicht beklagen, wirklich nicht. Allerdings ist mir vor ein paar Wochen ein zarter Leckerbissen durch die Finger geschlüpft.« Mrs.   Skinner seufzte. »Sie war ganz in violetten Samt gekleidet und über und über mit Edelsteinen behängt. Ich wollte sie mir schnappen, sobald sie sich wieder davonmachte, aber sie ist nicht mehr aufgetaucht. Wahrscheinlich ist mir jemand zuvorgekommen.«
    Mutter erwiderte offenbar etwas Witziges, denn die beiden Frauen lachten. Dann plätscherte die Unterhaltung wieder dahin und übertönte alle anderen Geräusche.
    Hettie berührte ihren Bruder am Arm. »Er hat mir einen Haufen Fragen gestellt«, flüsterte sie. »Der Lumpenkerl, meine ich. Über dich und mich und Mama, und wer unser Vater ist. Und als ich ihm nicht mehr antworten wollte und so getan hab, als würde ich schlafen, stand er einfach nur da und starrte mich an. Es war stockdunkel, und er stand völlig reglos da. So lange, bis ich es nicht mehr ertragen konnte.«
    »Er ist ein Feenwesen, Hettie, oder?«
    »Na, was glaubst du denn! Mama schließt die Tür jeden Abend ab, und der Kobold im Erdgeschoss verriegelt die Tür zur Gasse, und trotzdem schafft es der Lumpenkerl reinzukommen. Weißt du, er steckt den Finger ins Schlüsselloch, und dann springt das Schloss einfach auf.« Hettie spielte nicht mehr mit ihrer Puppe. Sie saß völlig reglos da und starrte Bartholomew an. »Ich mag ihn

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