Die Seltsamen (German Edition)
einer dicken Schicht bedeckt war, füllte er die Schöpfkelle aus dem Trinkwassereimer mit Wasser und träufelte es überallhin. Er hörte es in der Dunkelheit plätschern, und als er sich vorbeugte und mit dem Finger über den Boden strich, blieb die Mixtur fest daran kleben. Sehr gut! Er legte die Kelle neben die Tür und stieg ins Bett.
Als das Schloss an der Wohnungstür aufklickte, schlief er tief und fest.
Das Licht, das durch die Fenster hereinfiel, war noch aschfahl, als Bartholomew erwachte. Nichts regte sich im Haus.
Ruckartig setzte er sich auf. Die Asche. Falls Mutter die Sauerei entdeckte, würde es mehr als nur eine Ohrfeige setzen. Sie würde ihn wieder zu dem Quacksalber hinter dieser Schankwirtschaft schleppen, dem Bag o’ Nails, und der würde an ihm rumdrücken und ihm irgendein schauderhaftes Zeug einflößen. Bis sie aufwachte, durfte kein Krümel mehr zu sehen sein.
Er streifte seine Decke ab, beugte sich über den Rand des Bettes und kniff die Augen zusammen. Asche und Wasser waren im Laufe der Nacht getrocknet und bildeten eine graue, verkrustete Schlammschicht. Und diese Schicht war, als hätte jemand Eicheln darübergestreut, von zahllosen Spuren bedeckt.
Hab ich dich, dachte Bartholomew. Die Spuren waren klein und sahen aus wie zwei Zinken. Es waren Hunderte, und sie waren überall, um sein Bett herum und im ganzen Zimmer. Und sie führten zur Tür und unter ihr hindurch.
Bartholomew war ein Großstadtjunge durch und durch. Er war noch nie auf einen Baum geklettert oder über ein Feld gerannt. Außer auf Kaffeedosen hatte er noch nie einen Bauernhof gesehen. Aber Mutter hatte ihn auf den Markt mitgenommen, als er noch klein war, und er wusste, wie Tierfüße von unten aussahen. Das waren die Spuren einer Ziege. Hufe.
Wieder sah er die Laken vor sich, sah, wie der Wind sie im Garten der Buddelbinsters durcheinanderwirbelte, wie der Himmel stahlgrau wurde und wie sich das Gesicht der Feenmutter mit aufgerissenem Mund gegen die Scheibe des Dachfensters presste.
Du wirst überhaupt nichts hören. Die gespaltenen Hufe auf den Dielen. Die Stimme in der Finsternis. Es wird dich holen kommen, und du wirst nicht das Geringste hören.
Zitternd stand er auf und folgte den Spuren in das andere Zimmer hinüber.
ZEHNTES KAPITEL
Der Mechalchimist
»Ach, Melusine, Melusine.« Tante Dorcas schüttelte den Kopf, faltete die Hände über der billigen Zinnbrosche an ihrem Busen und schaute ach so mitleidsvoll drein. Sie hauchte den Namen der geheimnisvollen Dame, als gehörte sie zu ihren besten und ältesten Freundinnen.
Ophelia blickte vom Esstisch auf, wo sie die Stoffballen durchsah, die Tante Dorcas in der Dampfkutsche mitgebracht hatte. Von der Curzon Street zum Belgrave Square war es nicht weit, und für größere Einkäufe stellte der Tuchhändler stets Laufburschen zur Verfügung, aber wie Tante Dorcas es ausgedrückt hatte: »Zu Fuß gehen ist so furchtbar gewöhnlich.« Auch wenn sie die Köchin der Jellibys um das Fahrgeld hatte bitten müssen.
Mr. Jelliby, der sich bisher mürrisch in seinem Lehnstuhl gefläzt hatte, setzte sich unvermittelt auf. Tante Dorcas wusste Bescheid. Sie kannte die pflaumenfarbene Dame.
Er räusperte sich. Zupfte an seinen Manschetten. Darum bemüht, nicht allzu interessiert zu klingen, sagte er: »Und? Tante, wer ist sie?«
»Ja, wer ist sie?«, wiederholte Ophelia, eine Andeutung von Spott in der Stimme.
Tante Dorcas lächelte gütig. »Melusine Aiofe O’Baollagh«, sagte sie und wedelte mit ihrem Fächer vor ihren roten Wangen. Der Fächer sollte wie eines dieser eleganten Modelle aussehen, bei denen ein winziger Wichtel auf einem Stock befestigt und gezwungen wird, mit seinen hauchdünnen Flügeln zu wedeln. Aber dieser Fächer war nicht lebendig. Es war eine armselige Kopie aus Wachs und Baumwolle, und man musste schon blind sein, um ihn mit einer lebenden Fee zu verwechseln. Tante Dorcas schien sich dessen allerdings nicht bewusst zu sein, und niemand war so gemein, es ihr zu sagen. »Aus Irland«, fügte sie rasch hinzu, als sie die verständnislosen Blicke bemerkte. »Die Arme. Ich meine, sie war wirklich nur eine Kaufmannstochter – aber eine reiche Kaufmannstochter!«
Mr. Jelliby blinzelte. »War?«
»Sie ist in Ungnade gefallen.« Tante Dorcas seufzte. »Wegen ihres Liebsten, heißt es. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, war er der stattlichste Mann weit und breit. Sie waren verlobt. Aber dann kam es zu einem Vorfall.
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