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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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glaubten, hinter erhobenen Fächern und Zeitungen und unter den Krempen von Blumenhüten hervor, über Sonnenbrillen hinweg. Aber trotzdem, sie starrten ihn an. Weil sie sehen wollten, was der gut aussehende Mann mit der Kehrschaufel als Nächstes tun würde.
    Ganz langsam wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Vogel zu. Am liebsten hätte er sich fortgestohlen, den Vogel auf dem Tisch liegenlassen, eine Kutsche zurück zum Belgrave Square genommen und einen Brandy getrunken, als wäre nichts passiert. Diese Leute wussten von nichts. Niemand wusste von irgendetwas, und niemand würde es kümmern, wenn er nichts tat.
    Aber irgendwo in den Feenslums hing das Leben eines Kindes an einem seidenen Faden. Da konnte er doch nicht einfach Brandy trinken. Sonst hätte er sich übergeben müssen, und was dabei aus ihm herausgekommen wäre, hätte nach Blut und Knochen gerochen. Und wenn er samt Kutsche am nächsten Tag von einer Brücke gestürzt wäre, hätte er sich nicht einmal leid tun können, wie er so in den dunklen Fluten der Themse versank. Er war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der etwas davon wusste, was passieren würde. Und deshalb war er auch der Einzige, der es verhindern konnte.
    Mr.   Jelliby holte ein lackiertes Etui aus seiner Jackentasche und setzte sich eine Lesebrille auf die Nase. Dann beugte er sich vor, um den Vogel genauer zu begutachten. Irgendwo musste stehen, wo er gebaut worden war. Er musste es nur finden… Also kniff er die Augen zusammen und drehte die Maschine in der Hand hin und her. Der Vogel fühlte sich zerbrechlich an. Mr.   Jelliby konnte spüren, wie sich der Mechanismus unter seinen Fingerspitzen ganz leicht bewegte, und einen Moment lang überkam ihn der kindische Drang, ihn in der Faust zu zermalmen, bis die Federn und Metallplättchen zwischen seinen Fingern hervorstachen. Natürlich tat er das nicht – er hatte sich nicht diese ganze Mühe gemacht, um den Vogel jetzt zu zertrümmern. Außerdem hatte er ein paar Buchstaben entdeckt. Winzige Buchstaben, die in die Unterseite einer der Metallfedern geätzt worden waren.
    Mchn. Alch. stand da.
    Und in noch kleineren Buchstaben:
    X.Y.Z.
    Das Mchn. Alch. stand für ›Mechalchimist‹. So viel wusste Mr.   Jelliby. Und das X.Y.Z.? Vielleicht die Initialen einer Werkstatt oder des Herstellers selbst. Aber was für sonderbare Initialen das waren! Mr.   Jelliby würde sie im Adressbuch nachschlagen müssen. Hoffentlich war das ein Fabrikant, der inserierte. Ein Mechalchimist, der sich irgendwo in Limehouse abrackerte und für den Schwarzmarkt produzierte, wäre unauffindbar, selbst wenn Mr.   Jelliby hundert Jahre lang suchen würde.
    Er verließ das Kaffeehaus und schlenderte die Regent Street entlang Richtung Mayfair, wobei er nach einem Zeitungsstand Ausschau hielt. In der Regel hingen dort Werbezettel von Geschäften aus, direkt neben den Schichten über Schichten von Flugblättern, die wie die Blüten einer schmutzigen Blume im Wind flatterten und für Varietétheater, Zirkusse, Pantomimen, Opern und Phantasmagorien Reklame machten. Aber als er einen Zeitungsstand fand, entdeckte er dort nur zwei Zettel, die für Mechalchimisten warben, und das waren beides fürchterlich renommierte Geschäfte in der Grosvenor Street ohne ein einziges X, Y oder Z.
    Mr.   Jelliby nahm eine Kutsche zurück zum Belgrave Square und schlich auf Zehenspitzen an der offenen Salontür vorbei. Ophelia saß in ihrem Lieblingssessel und las mit gespannter Aufmerksamkeit die neuste Ausgabe von Spinnenseide und Tautropfen: Zeitschrift für Feenmagie . Sie bemerkte ihn sogleich, hielt ihn aber nicht auf, und er ging nach oben, schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein und machte sich daran, in fieberhafter Eile die Annoncen in seinen Gentlemen-Zeitungen zu studieren. Er brauchte bis zum Abend und einen Großteil des nächsten Tages, um zu finden, wonach er suchte. Darüber vergaß er ganz, zum Frühstück nach unten zu gehen, und sogar, sich zu rasieren, und als er schließlich fündig wurde, war er ein wenig enttäuscht. Die Anzeige war klein und schmucklos, wodurch sie sich von den aufwendigen Illustrationen von Perücken, Sardinen und mechanischen Kammerzofen deutlich abhob. Drei schwarz gedruckte Zeilen verkündeten, einigermaßen großsprecherisch für ihre bescheidene Gestalt: Mr.   Zerubbabels mechanische Wunderwerke! Alles, wovon Sie träumen mögen, und vieles, das Ihre kühnsten Träume übertrifft, gefertigt aus Messing und Federwerk,

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