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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Ärmel hoch und begutachtete die Schriftzeichen auf seinem Arm. Eine blutrote Zehn neben der anderen, nur eben in Feensprache. Wenigstens darüber hatte der Lumpenkerl die Wahrheit gesagt.
    Bartholomew rannte los, die Treppe hinunter, während ihm immer wieder Holzsplitter von dem wackligen Geländer in die Hand stachen. Er wusste nicht, wozu sie ihn haben wollten. Er wusste nicht, ob er sich verstecken oder alles Mutter erzählen oder friedlich warten sollte, bis sie ihn holen kamen. Die Kreatur – die, die er nicht gesehen hatte – hatte gesagt, sie würde für den Justizminister arbeiten. War das nicht gut? War es nicht nur den gütigsten, weisesten Leuten gestattet, Justizminister zu werden? Aber warum würde ein Justizminister Feen beschäftigen, die wie der Winter klangen und anderen Leuten die Zähne ausschlugen? Bartholomew wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Er hatte entsetzliche Angst und war furchtbar aufgeregt, beides gleichzeitig, und es fühlte sich an, als würde ein ganzer Mottenschwarm in seinem Magen mit den Flügeln schlagen. Vor seinem geistigen Auge flackerte ein Bild auf – er sah lauter vornehme Leute vor sich, Herzöge und Generäle, die mit Medaillen behängt waren, Hermelinmäntel, die über Marmor schleiften, und weitläufige, von Kerzen erleuchtete Säle. Ein silbernes Messer schlug gegen ein Weinglas. Hurrarufe ertönten. Und Bartholomew wurde klar, dass sie ihm zujubelten. Ihm, Bartholomew Kettle, Kind Nummer zehn, aus der Krähengasse im siebten Feenbezirk, Bath. Eine törichte Vorstellung. Eine wunderschöne, hoffnungsvolle, törichte Vorstellung, die eine Million Risse hatte.
    Fast hatte er die Wohnungstür erreicht, als er durch das Treppenhausfenster einen Blick auf die Gasse erhaschte. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt – ein Schatten, wo kein Schatten hätte sein sollen. Er ging wieder ein paar Stufen nach oben und drückte sein Gesicht gegen das runde Bleiglasfenster.
    Die pflaumenfarbene Dame. Sie war in die Krähengasse zurückgekehrt und saß so reglos wie der Tod auf einer grob gezimmerten Bank an einer Wand des Gebäudes, das als »Mooskübelhaus« bekannt war. Der zerfallende Dachvorsprung hing dicht über ihr und tauchte sie in seine Düsterkeit. Sie war gegen die Wand zurückgesunken, die Hände im Schoß, das Kinn auf der Brust.
    Bartholomew hob die Hand an die Fensterscheibe. Die von Kerzen erleuchteten Säle, die Hermelinmäntel und die bewundernden Blicke standen ihm immer deutlicher vor Augen. Warum sollte ihn die Dame nicht fortholen? Irgendjemand – nein, nicht irgendjemand, sondern der Justizminister höchstpersönlich – gab sich allergrößte Mühe, ihn aufzuspüren. Und das bedeutete, dass er wichtig war. In den Feenslums war er das nicht. In den Feenslums war er nur ein hässliches Ding unter vielen, das man verstecken musste und über das man nicht sprechen durfte. Hier würde er sterben. Früher oder später.
    Aber die grässlichen Feen auf dem Dachboden, schrie eine Stimme, die in seinem Kopf einen Lärm veranstaltete wie eine Feuerwehrglocke. Die Warnung von Mutter Buddelbinster, das hässliche Gesicht am Hinterkopf der Dame und die Hufe und die Auseinandersetzung auf dem Dachboden… Bartholomew brachte die Stimme zum Schweigen. Das spielte keine Rolle. Schließlich wollten all diese Leute ihn nur an einen schöneren Ort bringen. Einen Ort, wo er hingehörte. Es wäre für alle besser, wenn er von hier fortginge. Mutter hätte ein Maul weniger zu stopfen, müsste sich um einen Mischling weniger Sorgen machen. Hettie würde weinen, und er würde sie ganz schrecklich vermissen, aber er konnte sie doch bestimmt besuchen. Und wenn das Zimmer, in das er durch den Pilzkreis gelangt war, in etwa dem entsprach, was ihm bevorstand, dann hätte er nichts dagegen, da zu wohnen. Er musste nur ein wenig Blattgold von den Möbeln kratzen, und schon hätten Mutter und Hettie monatelang Pasteten und Ente zu essen.
    Als er sich vom Fenster abwandte, hatte er eine Entscheidung gefällt. Irgendwo in London warteten Leute auf ihn, wunderbare Leute mit Federwerkvögeln, prächtigen Zimmern und offenen Kaminen. Er würde der Krähengasse den Rücken kehren.
    Er legte den Kopf gegen die Wohnungstür und flüsterte: »Lebewohl, Mutter. Lebewohl, Hettie.« Dann lauschte er einen Moment, als wartete er auf eine Antwort. Schließlich ging er die Treppe hinunter. Der Kobold war auf seinem Hocker eingeschlafen. Das Gesicht in der Tür starrte ihn schweigend an,

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