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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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aus dem Geschäft und den schmalen Flur entlang zur Treppe. Hinter ihm wurden Stimmen laut. Die Glöckchen über der Ladentür klirrten wie wild. Mr.   Jelliby sprang die Treppe hinunter, wobei er vier Stufen auf einmal nahm und nur mit knapper Not dem gebrechlichen alten Mann ausweichen konnte, der ihm entgegenkam.
    Als er in die wabernde Luft der Ofenrohrstraße hinausstürzte, blieb er wie angewurzelt stehen.
    O nein. Eine riesige schwarze Kutsche stand so reglos wie ein Sarg am Ende der Straße und versperrte ihm den Fluchtweg. Zwei mechanische Pferde waren davorgespannt und scharrten über das Pflaster. Funken flogen von ihren Metallhufen auf.
    Mr.   Jelliby rannte in die andere Richtung, sauste, den Ärmel vor dem Mund, um nicht an den Ausdünstungen zu ersticken, von einer Abzweigung zur nächsten, mitten durch ein Gewirr winziger Gassen. Sobald es ihm möglich war, suchte er sich einen Weg zurück zur Hauptverkehrsstraße. Er erreichte sie, als die Glocken gerade sieben Uhr schlugen und das Ende des Werktages einläuteten. Arbeiter aus den Gießereien und Brauereien strömten durch die Tore und verstopften die Straße. Mr.   Jelliby kämpfte sich durch die Menge und hastete die Treppe zur Hochbahn hinauf.
    Als er auf den Bahnsteig gelangte, fuhr gerade mit einem schrillen Pfeifen eine Dampflokomotive aus. Er schwang sich auf das schmiedeeiserne Trittbrett des hintersten Waggons und sank außer Atem über dem Geländer in sich zusammen. Schweiß rann ihm in die Augen, doch er blinzelte ihn fort. Auf den Straßen unter ihm drängten sich Reihen um Reihen müder, dreckiger Menschen, die nach Hause stapften oder in eine Schankwirtschaft, den Blick auf den Schlamm unter ihren Stiefeln geheftet. Nirgendwo glitt eine Fee leichenblass und zypressenschlank zwischen ihnen hindurch.
    Der letzte Waggon rumpelte gerade um eine Kurve, als Mr.   Jelliby die schwarze Kutsche entdeckte, die wie ein schimmerndes Boot in schmutzigem Wasser die Menge teilte. An einer Kreuzung blieb sie stehen. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und verschwand stadteinwärts.
    Mr.   Jelliby atmete lange und tief durch. Das tat er wieder und wieder, doch nichts konnte die panische Angst lösen, die sich in seiner Lunge festgesetzt hatte. Der Feenbutler hatte ihn gesehen. Er hatte Mr.   Lickerishs Vogel in seiner Hand gesehen, zweifelsohne ebenjenen Vogel, nach dem er sich hatte erkundigen wollen. Falls sie vorher vermutet hatten, dass er ein Spion sei, dann waren sie sich dessen jetzt sicher. Und ein Dieb war er in ihren Augen nun auch. In diesem Moment wurde Mr.   Jelliby etwas bewusst, das ihm heftige Übelkeit verursachte: Er hatte bereits beschlossen, dass er Melusine retten, den Hochelfen an weiteren Missetaten hindern und England vor seinen heimtückischen Plänen beschützen würde. Aber er hatte bei alldem kein Aufsehen erregen wollen. Er wollte nicht, dass irgendjemand über ihn die Stirn runzelte oder lachte, und er wollte unter den anderen Gentlemen von Westminster ganz bestimmt nicht auffallen. Aber das war offenbar nicht möglich, das sah er jetzt ein. Gentlemen aus Westminster verfolgten keine mechanischen Vögel durch die Straßen der Stadt. Sie machten nicht Jagd auf Mörder oder halfen fremden Leuten. Mr.   Jelliby hatte all das getan. Für ihn gab es jetzt kein Zurück mehr.
    Der Feenbutler würde Mr.   Lickerish erzählen, was er gesehen hatte. Mr.   Lickerish würde augenblicklich begreifen, was vorgefallen war. Ihm würde klar sein, dass Mr.   Jelliby Dinge wusste, die kein Mensch wissen durfte. Und was würde er dann tun? Oh, was würde der skrupellose Hochelf tun? Mr.   Jelliby erschauderte und duckte sich in den mit Asche gespickten Wind.
    Kurz vor Einbruch der Dunkelheit traf er am Belgrave Square ein, von oben bis unten voller Ruß, nachdem er mit dreißig Meilen pro Stunde zwischen den Schornsteinen Londons hindurchgefahren war. Er knallte die Haustür hinter sich zu, schob den Riegel vor, hängte die Kette ein, holte den Schlüssel unter dem Schirm einer Gaslampe hervor und schloss ab. Dann lehnte er sich dagegen und rief: »Brahms! Brahms! Schließ im ganzen Haus die Fensterläden! Schieb die Möbel vor die Fenster! Und zwar auf der Stelle! Ophelia?«
    Er erhielt keine Antwort.
    »Ophelia!«
    Ein Dienstmädchen erschien mit weit aufgerissenen Augen am oberen Treppenabsatz. »Guten Abend, Sir«, murmelte sie. »Die Köchin hat Ihr Abendessen warmgehalten, und Sie haben ein…«
    Mr.   Jelliby fuhr

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