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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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graue Holzaugen über grauen Holzwangen. Auch von ihnen verabschiedete sich Bartholomew, wortlos. Und schlüpfte auf die Gasse hinaus.
    Die Häuser um ihn herum zeichneten sich wie schwarze Stacheln vor dem Himmel ab. Die Sonne ging gerade erst auf, und nur die erste Morgenröte spendete ein wenig Licht. Irgendwo klapperte ein Karren über das Pflaster.
    Bartholomew überquerte die Gasse und näherte sich vorsichtig der Dame, wobei er sich dicht an der Häuserwand hielt. Aus der Nähe wirkte sie noch größer, noch finsterer und abweisender, als würden die Schatten in den Nischen und Hauseingängen von ihr magisch angezogen, um mit ihren Röcken zu verschmelzen. Als Bartholomew sie das letzte Mal gesehen hatte, war er in seiner Giebelkammer gewesen, hinter Glas. Jetzt konnte er jede Einzelheit an ihr erkennen. Sie war jung. Überhaupt keine große Dame, sondern ein Mädchen von nicht mehr als zwanzig Jahren. Ihr Hut saß ihr noch immer schief auf dem Kopf, aber sie trug keine mit Edelsteinen besetzte Halskette mehr, und einer ihrer nachtfarbenen Handschuhe war zerrissen; so etwas wie eingetrocknetes Blut blätterte davon ab. Ihre roten Lippen waren ein wenig verschmiert. Bartholomew fand, dass sie das herrlichste und furchterregendste Geschöpf war, das er je gesehen hatte.
    Er näherte sich ihr bis auf drei Schritte und blieb stehen. Wie still sie dasaß! So furchtbar still im Schatten der Dachtraufe. Vielleicht sollte er ihre Hand berühren? Aber das schien ihm nicht sehr klug zu sein.
    Gerade wollte er sich wieder in das Haus zurückschleichen und dort hinter der Tür abwarten, bis ihm etwas einfiel, das er zu ihr sagen konnte, als sich die Dame plötzlich bewegte. Ihre Augen flatterten auf, und sie hauchte: »Oh! Hallo, mein liebes Kind!«
    Ihre Stimme klang verträumt, als schliefe sie noch halb.
    Bartholomew zuckte zusammen. Einen Moment lang war er sich nicht sicher gewesen, ob sie ihn meinte, denn sie hatte nicht den Kopf gedreht oder ihn auch nur richtig angeschaut. Aber die Gasse war leer. Er und die Dame waren die einzigen Menschen weit und breit.
    »Hat Vater dich geschickt?«, fragte sie. »Bist du der neue Kammerdiener?«
    Bartholomew stand mit offenem Mund da und wusste nicht, was er sagen sollte. Ist das so etwas wie eine Prüfung? O nein. Das durfte er jetzt nicht vermasseln. Er musste etwas Kluges sagen, um sie zu beeindrucken. Schließlich war das immer noch die Magierin, die seinen Freund fortgeholt hatte, die Dame mit dem geheimen verzerrten Gesicht am Hinterkopf. Aber ihre Augen wirkten so freundlich. Und sie hatte eine wunderschöne Stimme. An das andere Gesicht konnte er sich nicht einmal mehr erinnern. Vielleicht gehörte es jemand anderem.
    »Richte ihm aus, dass ich nie nachgeben werde«, fuhr sie fort. »Nicht, solange die Hügel grün sind. Jack wird mir gehören, und nichts wird uns jemals trennen. Aber ich bin so müde… Warum sitze ich auf einem so harten Stuhl? Wo sind meine Kissen? Wo ist Mirabel mit dem Pfirsichteint? Mein liebes Kind, wo bin…«
    Plötzlich riss sie die Augen auf. Ihre Pupillen richteten sich auf Bartholomew, sie setzte sich kerzengerade hin und packte seine Hände. »O nein«, flüsterte sie, und ihre Stimme franste an den Rändern aus. Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben, und in ihre Augen trat ein angstvoller Glanz. »Nein, nein. Du musst fliehen. Liebes Kind, sie sind hier, um dich zu holen! Lass es nicht zu! Lauf! Lauf wie der Wind und schau nie zurück!«
    Mit einem Mal war ein Geräusch zu hören, ein Pochen, das in die Gasse herabwehte. Es kam von den Dächern. Bartholomew schaute nach oben, und in dem Moment barst das Fenster seiner kleinen Giebelkammer, und eine Wolke aus Glassplittern schoss heraus. Ein schwarzer Schatten folgte ihr, eine grässliche, sich windende Gestalt. Sie stürzte, von funkelnden Scherben umgeben, abwärts und landete mit einem entsetzlich lauten dumpfen Geräusch auf dem Pflaster.
    Bartholomews Herz setzte einen Schlag aus. Die Dame schluchzte laut und ließ seine Hände los.
    Dann schien plötzlich alles ganz langsam abzulaufen. Die Splitter der Fensterscheibe regneten herab und klimperten wie Diamanten in den Rinnstein. Die sich windende Gestalt kam über das Pflaster auf sie zugaloppiert. Die Dame wandte sich mit Tränen in den Augen zu Bartholomew um.
    »Sag Papa, dass es mir leidtut«, flüsterte sie. »Sag Papa, dass es mir leidtut.« Und dann krachte die dunkle Gestalt in sie hinein, und die Dame krümmte

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