Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
sich, den Mund weit aufgerissen, vornüber.
    Als sie wieder den Kopf hob, schillerten ihre Augen schwarz. Feenaugen.
    Bartholomew rannte los.
    »Vekistra takeshi! Vekistra!«, kreischte die pflaumenfarbene Frau hinter ihm. »Lasst das zehnte Kind nicht entkommen!«
    Es war die Stimme der Kreatur auf dem Dachboden. Die Stimme der Kreatur, die Bartholomew nicht hatte sehen können. Und jetzt klang sie nicht mehr leise und gleichgültig, sondern schrill und verzweifelt.
    Bartholomew stürzte in das Haus hinein. Kurz bevor die Tür zuschlug, sah er, wie sich die pflaumenfarbene Dame mit einer Flasche in der Hand über den Gehsteig beugte und eine schwarze Flüssigkeit auf das Pflaster träufelte. Dann krachte die Tür in den Angeln, und er rannte die Treppe hinauf und in die Wohnung. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, brauchte er zwei Anläufe, um den Riegel vorzuschieben. Schritte. Im Treppenhaus war jemand. Schritte, die durch die Stille dröhnten. Bartholomew griff nach dem Schlüssel und rammte ihn ins Schloss. Wohin kann ich fliehen? Das laute »Lasst das zehnte Kind nicht entkommen!« hallte ihm noch immer in den Ohren. Es hatte so furchtbar endgültig geklungen. Die pflaumenfarbene Dame würde ihn nicht freundlich mit sich fortnehmen wie den jungen Buddelbinster. Sie würde ihn nicht in irgendwelche verwunschene Säle voller Licht und herausgeputzter Leute geleiten. Sie würde ihn entführen.
    »Hettie?«, rief Bartholomew und stürzte zu ihrem Bett. »Hettie, wach auf. Wach auf! Sie kommen gleich rein!« Er zog die Schranktür auf und stieß den Finger in die Laken, um sie zu wecken.
    Hettie war nicht da.
    Bartholomew heulte laut auf und rannte zum Bett seiner Mutter. Er schüttelte sie und trommelte mit den Fäusten auf ihren Rücken. »Mutter!«, rief er, während ihm Tränen der Verzweiflung in den Augen brannten. »Mutter, wach auf!« Aber sie regte sich nicht.
    Die Schritte hatten den Treppenabsatz vor ihrer Wohnung erreicht und näherten sich der Tür. Langsam, bedächtig. Warum wachte sie nicht auf?
    Er würde das Fenster öffnen. Er würde es weit aufreißen und schreien, bis er den ganzen Feenbezirk aus den Betten aufgescheucht hatte. Aber dafür war es zu spät. An der Tür klickte es leise. Das Schloss. Jemand hatte es geöffnet.
    Bartholomew wich von der reglosen Gestalt seiner Mutter zurück. Seine Finger schlossen sich um den eisernen Griff des Kohleeimers. Er hob ihn hoch und zog ihn an sich. Der Eimer war schrecklich schwer. Wenn es sein musste, konnte er dem Hausgeist damit den Schädel einschlagen. Er drückte sich hinter dem Kanonenofen an die Wand und wartete.
    Die Wohnungstür ging knarrend auf. Ganz langsam kam dahinter eine Gestalt zum Vorschein, deren Umrisse sich vor dem schwachen Licht aus dem Treppenflur abzeichneten. Die Gestalt hatte Ziegenbeine und einen zerfledderten Hut. Zwei rote Augen glommen wie Kohle unter der Krempe. Sie schweiften durch das Zimmer, hin und her, hin und her. Hielten inne. Wandten sich wieder dem Kanonenofen zu. Er kann unmöglich wissen, dass ich hier bin.
    »Hallo, kleiner Bub.«
    Mit einem zornigen Schluchzen sprang Bartholomew hinter dem Ofen hervor und schwang den Kohleeimer mit ganzer Kraft. Der Lumpenkerl grinste. Ein greller Blitz zuckte aus seinen Augen, fuhr knisternd durch das Zimmer und traf Bartholomew an einer empfindlichen Stelle tief in seinem Kopf. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Da stand er nun, blind und unbeholfen, mitten in der Küche. Irgendwo weit weg hörte er Flügel schlagen und das Knurren eines eisigen Windes. Er fühlte sich so furchtbar schwer, konnte sich kaum aufrecht halten. Hettie, dachte er, bevor er zusammenbrach. Sie hatten es auf Hettie abgesehen. Und Hettie war fort.
    Der Eimer glitt ihm aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden, laut wie ein Donnerschlag. Aber niemand im ganzen Haus wachte auf.

ZWÖLFTES KAPITEL

    Das Haus und der Zorn
    Mr.   Jelliby gehörte nicht zu den Menschen, die übereilte Entscheidungen trafen. Genau genommen gehörte er überhaupt nicht zu den Menschen, die Entscheidungen trafen. Aber als sich das mechanische Auge des Feenbutlers fauchend auf den Vogel in Mr.   Jellibys Hand richtete und die Kreatur ihn hungrig anlächelte und »Was für ein Zufall, Sie hier zu sehen…« sagte, als wären sie die ältesten Freunde, traf er eine ausgesprochen übereilte, ausgesprochen tollkühne Entscheidung. Er nahm die Beine in die Hand.
    Er stopfte sich den Vogel in die Hosentasche und stürzte

Weitere Kostenlose Bücher