Die Seltsamen (German Edition)
stahl sich Nebel zwischen die Grabsteine von St. Mary, Queen of Martyrs. Er roch nach Holzkohle und Verwesung und legte sich in schwerfälligen Schwaden über den am Hang gelegenen Friedhof. Wolken trieben über den Himmel und löschten den Mond aus. Irgendwo im Labyrinth der Straßen jenseits der Mauer bellte ein Hund.
In seiner Hütte, die sich an die Kirche schmiegte, saß der Wachmann im schwankenden Schein seiner Laterne und schlief tief und fest. Grabräuber waren gekommen und gegangen, hatten ihr Werk schon vor Stunden vollbracht und würden nur allzu bald bei den Medizinern in der Harley Street eintreffen und bei gewissen Feen mit besonderen Vorlieben. Niemand hörte das plötzliche Kreischen des Windes oder sah die Säule aus Flügeln in der Finsternis Gestalt annehmen. Niemand sah die Dame, die zwischen ihnen hervortrat. Sie ließ den Blick über den Friedhof schweifen, und ihr Kopf ruckte wie der eines Vogels hin und her. Dann wandte sie sich um und eilte auf das Tor zu, wobei ihr pflaumenfarbener Rock über die feuchte Erde schleifte.
An der Hand hielt die Dame ein kleines Kind. Es war ein dünnes Mischlingsmädchen mit Zweigen auf dem Kopf. Es war Hettie. Sie schien einzuschlafen, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, und stolperte über Wurzeln und verwitterte Grabsteine. Hin und wieder sank ihr Kopf zur Seite weg, als wüsste sie nicht, dass sie sich auf einem nebeligen Friedhof befand, als dächte sie, sie könnte sich auf ihr Kissen kuscheln und schlafen.
»Trödel nicht so rum, du hässliches Ding«, fauchte die Dame und zog sie hinter sich her. »Wir haben es fast geschafft.«
Ihre Lippen bewegten sich nicht, als sie sprach. Der Nebel verschluckte sämtliche Geräusche, und trotzdem klang die Stimme der Frau, als käme sie von weit her und als wären ihre Lippen unter mehreren Schichten Stoff verborgen. »Um eine Sache muss ich mich heute Nacht noch kümmern, und dann kannst du meinetwegen schlafen, bis deine Fingernägel halb nach Gloucester wachsen.«
Hettie rieb sich mit ihrer freien Hand die Augen und murmelte etwas von Ratten und Häusern.
»Und halt den Mund!« Die Dame trat durch das Friedhofstor auf die Bellyache Street hinaus, hob den Kopf und schnüffelte. Dann schritt sie weiter über das Pflaster. Hettie konnte kaum mit ihr Schritt halten, aber die Dame schenkte ihr keine Beachtung. Sie zerrte Hettie die Bellyache Street entlang zum Belgrave Square. Im Schein der Lampen eilten sie lautlos über den weitläufigen Platz.
Vor einem großen Haus blieben sie stehen, direkt neben einem Fahrrad, das am Zaun festgekettet war. Das Haus ragte schwärzer als der Nachthimmel vor ihnen auf, kein einziges Fenster war erleuchtet. Die Dame betrachtete es einen Moment lang. Dann zerrte sie Hettie zum nächstgelegenen Laternenpfahl und stellte sie darunter, deutete zu der Flammenfee hinauf und sagte: »Siehst du das? Siehst du, wie sie ihre kleinen orangefarbenen Hände gegen die Scheibe presst und dich anstarrt? Jetzt rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin in sieben Atemzügen wieder da.« Sie wirbelte davon, und Hettie blieb gebannt unter der Straßenlaterne stehen.
Oben an der Treppe hielt die Dame inne und zog einen schweren Metallzylinder unter den Falten ihres Rockes hervor. Er war uralt, mit Grünspan überzogen und mit heidnischen Symbolen bedeckt. In den Deckel war ein lächelndes Gesicht mit dicken Wangen und funkelnden Augen eingeätzt. Die Dame drehte den Deckel, als zöge sie eine Uhr auf, und plötzlich veränderte sich das Gesicht. Kaum stand es auf dem Kopf, wurde es zornig, seine Augen verdüsterten sich, und es zog die Mundwinkel nach unten. Der Zylinder sprang auf.
»Arthur Jelliby«, flüsterte die Dame und lächelte, als etwas aus dem Zylinder herausflog, durch das Schlüsselloch hindurch und in die vornehme Finsternis des Hauses hinein. Die Dame ließ den leeren Zylinder wieder zwischen ihren Röcken verschwinden, sammelte Hettie am Straßenrand ein und eilte zurück nach St. Mary’s und auf den Friedhof.
Es war nicht das Geräusch, das Mr. Jelliby weckte. Vielmehr waren es zwei Dinge gleichzeitig – die Kälte, weil die Decke halb von ihm heruntergerutscht war, und eine Unebenheit in der Matratze, die er im Kreuz spürte wie eine gebrochene Feder, die ihn dort drückte.
Er setzte sich auf und tastete im Dunkeln umher, auf der Suche nach dem Grund seines Unbehagens. Dabei war er so schrecklich müde! Wäre in diesem Moment ein Mann mit spitzen Schuhen
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