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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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eines Tischbeins vom Boden hoch. Seine Kleidung war über und über mit Ascheflocken bedeckt, doch er bemerkte es kaum. Er trat zu seiner Mutter ans Bett. Sie lag noch immer da, wie er sie zurückgelassen hatte. Sie schlief tief und fest, atmete gleichmäßig und ruhig. Manchmal lächelte sie ein wenig oder räusperte sich oder rollte sich herum, ganz so, als würde sie normal schlafen. Nur dass sie nicht aufwachte.
    Bartholomew packte sie an der Schulter. »Mutter?«, wollte er sagen, aber aus seinem Hals kam nur ein leises Krächzen.
    Wie benommen lief er aus der Wohnung hinaus und lauschte an jeder Flurtür, an der er vorbeikam. Alles war still. Keine Kinder weinten, keine Schritte huschten über die nackten Dielen, nicht einmal nach Rüben roch es. Er stapfte die Treppe hinauf und die Treppe hinunter, durch das ganze Haus, und überall war es das Gleiche. Nur ab und zu hörte er ein Schnarchen und das Knarren einer Bettfeder. Selbst der Kobold, der die Tür zur Krähengasse bewachte, saß schlafend auf seinem Hocker; ein Speichelfaden glänzte an seinem Kinn.
    »Hallo«, sagte Bartholomew. »Hallo?« Ein klein wenig lauter dieses Mal. Die Wörter flatterten das Treppenhaus hinauf, stumme Flure entlang, durch Quadrate aus Sonnenschein. Und hallten wieder zu ihm herunter: »…loh, loh, loh…«
    Alle schliefen sie. Alle, außer ihm. Die Glocken von Bath schlugen zwölf Uhr mittags. Bartholomew ging hinaus, blieb auf der Gasse stehen und starrte ins Nichts. Was sollte er jetzt tun?
    Allmählich zogen Wolken auf, aber noch war das Wetter heiter. Bartholomew spürte die Sonne auf der Haut, aber sie wärmte ihn nicht. Zwischen den Pflastersteinen war ein Ring aus Pilzen emporgesprossen. Es waren nur wenige, und sie standen weit auseinander. Als Bartholomew in ihre Mitte trat, flimmerte die Luft nicht einmal. Er zertrampelte sie, einen nach dem anderen, und verschmierte die schwarze Flüssigkeit auf dem Boden.
    Nach einer Weile entdeckte er einen Mann, der langsam die Gasse heraufkam. Der Mann trug einen weißen Anzug mit einem blauen Kragen. Bartholomew hielt ihn für einen Matrosen. Er war nur noch wenige Schritte entfernt, als er Bartholomew bemerkte. Seine Augen wurden groß, und er bekreuzigte sich. Dann drückte er sich an der Mauer entlang und eilte um die Ecke davon. Bartholomew blickte ihm nach, das Gesicht abweisend und ausdruckslos.
    Dummer, dummer Kerl. Bartholomew verspürte unvermittelt Hass auf den Mann. Warum hatte er ihn angestarrt und sich bekreuzigt? Er ist nicht besser als ich. Er ist nur ein dummer, dreckiger Matrose, der wahrscheinlich nicht mal lesen kann. Ich kann lesen. Bartholomews Zähne begannen zu schmerzen, und da wurde ihm bewusst, dass er sie fest aufeinanderbiss. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt. In Gedanken schlug er auf den Mann ein, wieder und immer wieder, bis sein Gesicht nicht mehr wie ein Gesicht aussah, sondern wie ein kaputter Topf, aus dem rote Suppe lief.
    »He, du da!«, sagte eine barsche Stimme hinter ihm. Eine Hand packte Bartholomew an der Schulter und riss ihn herum.
    Er sah sich einem runden, pockennarbigen Gesicht gegenüber, das wie ein alter Pfannkuchen aussah. Das Gesicht gehörte einem kleinen dicken Mann, dessen zerlumpter Uniformrock aus allen Nähten zu platzen drohte. Auf dem Rücken trug er den Rucksack eines Hausierers, aber alle Haken, an denen normalerweise Löffel, Pfannen und Puppen hingen, waren leer.
    »Was glaubst du denn, was du da machst, hä? Flüsterst hinterm Rücken anständiger Leute irgendwelche Zaubersprüche? Was für ein Hexenwerk treibst du da, Junge?« Der kleine Mann hob Bartholomew am Kragen hoch, bis er nur noch Zentimeter von seinem schmutzigen, stoppeligen Gesicht entfernt war.
    »Bist ein Teufelskind, was?«, schnaufte er. »Ein Seltsam. Sag schon, Teufelsbub, hat dich deine Mama mit Hundeblut großgezogen anstatt mit Milch?«
    »N-nein«, krächzte Bartholomew. Sein Verstand war plötzlich hellwach. Die Angst hatte ihm Beine gemacht. Gib acht, dass dich niemand bemerkt, dann landest du auch nicht am Galgen. Gib acht … Jetzt war er bemerkt worden.
    »Solche wie du, die werden gerade ermordet, hast du nicht gehört? O ja! Werden aus dem Fluss gefischt, ganz kalt und nass. Ich hab gehört, dass sie rote Zeichen auf den Armen haben, auf der Haut. Und sie sind… leer, treiben da wie Lumpen in der Brühe.« Der kleine Mann lachte hämisch. »Nichts mehr drin! Ha-ha! Gar nichts mehr drin! Wie findest du das, hä? Hast du auch

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