Die Seltsamen (German Edition)
entzwei.
Oben an der Treppe erschien ein Licht. Brahms stand mit seiner Nachtmütze dort und hielt eine große Kerosinlampe in die Höhe. Sie riss einen Kreis gespenstischer Gesichter aus der Dunkelheit, die alle voller Angst und Staunen auf den Kampf hinabblickten, der unter ihnen tobte.
»Ophelia?«, rief Mr. Jelliby hinauf. »Ist mit Ophelia alles in Ordnung?« Auch der Teppich im Vestibül war zum Leben erwacht – Panther und andere Wildkatzen glitten mit fließenden Bewegungen durch das Gewebe auf ihn zu.
Seine Gattin drängte sich durch die aufgeregte Dienerschaft; ihr Nachthemd leuchtete weiß in der Dunkelheit. »Mir geht es gut, Arthur, uns allen geht es gut, aber…«
Mr. Jelliby stampfte mit dem Fuß auf und zertrat in den sich windenden Maschen des Teppichs eine rotäugige Katze. »Dahinter steckt Mr. Lickerish! Er hat irgendwen geschickt. Irgendetwas, um…«
Eine weitere Katze riss sich los. Er spürte sie an seinem Bein, ein beißender Schmerz, als bohrten sich ihm die Fäden in die Haut. Verzweifelt zerrte er daran.
»Arthur, wir kommen!«, rief Ophelia. Brahms machte Anstalten hinunterzusteigen, aber die Treppe faltete sich zusammen wie ein Akkordeon, und der arme Kerl befand sich plötzlich zwei Meter über dem Boden, wo er wild mit den Armen ruderte. Die anderen Diener schrien laut auf, bekamen ihn zu fassen und zogen ihn zurück.
»Arthur, was geht hier vor?«
Er musste von hier verschwinden. Das Haus hatte es auf ihn allein abgesehen, sämtliche Hausbewohner waren in Gefahr, solange er sich hier befand. Und wenn die Vordertür sich nicht öffnen wollte, musste er einen anderen Fluchtweg finden. Er hinkte den Korridor entlang zur Bibliothek. Von dort konnte er in den Garten gelangen!
Aus allen Richtungen flogen Dinge auf ihn zu. Nägel lösten sich aus den Dielen, und aus den Ecken huschten ihm Blumentöpfe und Stühle nach. Die Gemälde an den Wänden entließen ihre Bewohner in die Freiheit, und ein alter Mann mit einer gepuderten Perücke ging, flüsternd und die Finger zu Klauen gekrümmt, auf ihn los. Eine Dame mit Hakennase packte ihn an den Haaren und drückte seinen Kopf gegen die Leinwand.
»Habt Ihr das nicht gesehen?«, fauchte sie ihm ins Ohr. »Habt Ihr nicht gesehen, wie diese gewöhnliche kleine Dienstmagd mich mit einer Haarnadel gekratzt hat? Und Ihr habt nichts getan!«
Er konnte ihre gemalte Hand riechen, das Terpentin und den Staub; die Pinselstriche ihrer Finger kratzten ihm über das Gesicht und näherten sich seinen Augen. Mit einem Schrei riss er die Leinwand mittendurch und stürzte fort von der Galerie mit den Porträts. Ein Regenschirm schloss sich um sein Bein. Er trat danach und stolperte gegen die Büste irgendeines Königs. Sie spuckte ihm einen Klumpen Marmor direkt ins Auge.
»So sieht meine Nase nicht aus!«, kreischte die Büste. Mr. Jelliby wich vor ihr zurück. Hinter sich spürte er die Buntglastür, die in den Garten führte, und seine Hand ertastete den Knauf. Er rüttelte daran. Verriegelt. Kurzentschlossen packte er die Büste am Hals und schleuderte sie mit aller Kraft durch die Scheibe. Glas splitterte. Er sprang durch die Tür.
Unvermittelt herrschte Stille.
Beistelltische und Teekessel hielten polternd auf der Schwelle inne. Die Büste rollte ins Strauchwerk davon.
Mr. Jelliby ließ sich ins Gras fallen und schnappte nach Luft. Halb rechnete er damit, dass die Pflanzen sich erheben und ihn verschlingen würden, aber der Garten blieb reglos und stumm. Keine Stimmen mehr, die sich beschwerten. Keine fleischfressenden Rosen, keine abscheulichen Waldgeister. Er rappelte sich auf, der Tau und die Erde kalt unter seinen bloßen Füßen. Und da hörte er es. Ein Geräusch aus einer Gruppe von Rhododendren, die in einem abgelegenen Winkel des Gartens wuchsen. Stein schabte über Stein. Etwas bewegte sich durch das Geäst. Nicht nur ein Etwas, sondern mehrere. Blätter raschelten. Kurz drauf glitt ein Fratzendämon, der seine Flügel hinter sich herschleifte, aus dem Halbdunkel. Ein apfelwangiger Elf folgte ihm, eine niedliche kleine Axt in der Hand. Sein Gesicht war zu einem wahnsinnigen Grinsen erstarrt. Steinfaune, Nymphen und ein großer Messingfrosch traten unter dem Laubwerk hervor, und alle hatten sie etwas, worüber sie sich lauthals beschwerten.
»Da bist du ja«, flüsterte eine Venus, und ihre Stimme klang heiser und furchterregend. »Warum habe ich keine Arme? Was für ein Schwachkopf meißelt eine Göttin ohne Arme?
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