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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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und dann an Hettie, und am liebsten wäre er wieder losgerannt, irgendwohin, um nach ihr zu suchen.
    Sie ließen den Feenmarkt hinter sich und folgten einem Laufsteg, der sich am äußersten Rand der lotrechten Stadt entlangschlängelte. »Der Bahnhof«, hatte Mr.   Jelliby gesagt, »ist ganz unten.« Und dorthin gingen sie jetzt.
    Im Moment befanden sie sich allerdings noch Hunderte von Metern über dem Fundament. Bartholomew konnte meilenweit sehen, bis zu den Feldern jenseits der Stadt. Der Himmel erstreckte sich vor ihm und wurde, während die Sonne unterging, allmählich kupferfarben. Wolken rollten tief und unheilvoll über die Wölbung der Welt.
    Bartholomew blieb stehen. Irgendetwas war da am Himmel, etwas außer der grenzenlosen Dämmerung. Ein Aufblitzen. Ein schwarzer Schwarm entfernte sich, dunkler als die Wolken, mit sagenhafter Geschwindigkeit von der Stadt.
    Bartholomew beugte sich über das Seilgeländer. »Schauen Sie«, rief er und winkte Mr.   Jelliby. »Schauen Sie, dort.«
    Mr.   Jelliby trat neben ihn und kniff die Augen zusammen. »Was zum Teufel…«
    »Das sind die Flügel«, sagte Bartholomew leise. »Sie ziehen davon.« O Hettie, dachte er bei sich. Hoffentlich bist du in Sicherheit.
    Mr.   Jelliby entging nicht, dass sich Bartholomews Miene verdüsterte. »Komm jetzt«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Wir finden deine Schwester. Und befreien sie.« Dann lächelte er – nicht sein breites Westminsterlächeln, sondern ein ehrliches. »Wenn wir schon gemeinsam auf Abenteuer ausziehen, sollten wir unsere Namen kennen, meinst du nicht?« Er streckte Bartholomew die Hand hin. »Ich heiße Arthur. Arthur Jelliby.«
    Bartholomew rührte sich nicht. Erst starrte er Mr.   Jelliby an und dann dessen Hand. Schließlich nahm er sie ganz vorsichtig und schüttelte sie.
    »Bartholomew«, sagte er.
    Gemeinsam wandten sie sich um und eilten in die allmählich dunkler werdende Stadt hinab.

SECHZEHNTES KAPITEL

    Die Grünhexe
    Die Kolben der Lokomotive hoben und senkten sich einmal, zweimal, und schon war Mr.   Jelliby eingeschlafen.
    Bartholomew hatte gehofft, er würde etwas sagen, ihre Pläne besprechen oder ihm mehr von der pflaumenfarbenen Dame erzählen, aber das tat er nicht. Nun denn. Die Luft war warm und der Sitz bequem, also kuschelte sich Bartholomew tief hinein und drückte seine Nase gegen das kalte Fenster. Die Stadt schwamm gleich einem blauschwarzen Fleck unter ihm vorbei, und die Türme und Dächer waren so schnell verschwunden, dass er sie kaum sah. Der Zug überquerte den Fluss und tuckerte zwischen den hochaufragenden schwarzen Schornsteinen der Kanonengießereien hindurch. Im Handumdrehen lag die Stadt hinter ihnen, und sie fuhren über grüne Felder und Wiesen. Nach ein paar Minuten war Bath nur noch ein Tintenklecks, der mit jedem Atemzug kleiner wurde.
    Bartholomew schaute zurück und verspürte einen seltsamen Stich in der Brust. Er ließ seine Heimat hinter sich, all die Dinge, die sein Leben ausgemacht hatten. Er fuhr wer weiß wohin, und das in Gesellschaft eines Gentleman, der nicht aß, wenn es etwas zu essen gab, und der Mischlingen die Hand schüttelte. Irgendwo dort hinten in dem Tintenklecks lag seine Mutter schlafend in der Wohnung. Und Hettie… wo Hettie war, wusste er nicht. In der Wohnung nicht, sondern irgendwo anders.
    Er wandte seine Aufmerksamkeit ihrem Abteil im Zug Nr.   10 nach Leeds zu. Mr.   Jelliby hatte, wie er das immer tat, einen Fahrschein erster Klasse gelöst, und Bartholomew war nicht so durcheinander, dass er nicht bemerkt hätte, wie furchtbar schick alles war. Über den Sitzen hingen kleine gerahmte Gemälde mit unbeschwerten, anheimelnden Motiven – vornehm angezogene Menschen, die Tee tranken oder spazieren gingen und mit geistesabwesendem Lächeln Schaufenster oder Fischteiche anstarrten. An den vertäfelten Wänden waren zwei Lampen angebracht, und in jeder war eine Flammenfee eingesperrt. Die Fee auf Bartholomews Seite klopfte gegen das Glas, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, und fing dann an, ihr leuchtendes Gesicht zu einer Folge unverschämter Grimassen zu verziehen. Bartholomew starrte sie eine Weile an. Als er sich wieder dem Fenster zuwandte, pochte die Fee mit den Fäusten von innen gegen die Lampe und spuckte zornig Flammen. Bartholomew schaute wieder zu ihr hin. Sofort fing sie wieder an, Grimassen zu schneiden.
    Nach einer Weile wachte Mr.   Jelliby auf. Bartholomew ließ den Kopf gegen das Fenster sinken und tat

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