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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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starrte zu den Ästen hinauf, die einen kuppelförmigen Baldachin bildeten. Dann ging er, dicht gefolgt von Bartholomew, hinein.
    Die Luft unter den Bäumen war feucht, aber nicht so wie auf den Feldern. Es war eine modrige, von Leben erfüllte Feuchtigkeit, und sie roch schwer nach Rinde und nasser Erde. Moos bedeckte den Boden, und obwohl die Bäume dicht beieinander standen, war es ein Leichtes, zwischen ihnen hindurchzulaufen. Nach kaum mehr als zwanzig Schritten fanden sie sich auf einer kleinen Lichtung wieder. Das hohe Gras raschelte im Regen, ein Haufen verkohlter Stöcke knisterte, wenn die Tropfen sie trafen. Und in der Mitte der Lichtung stand, so fröhlich und einladend wie nur möglich, ein Wagen mit einem runden Dach. Er war rot angestrichen, und gelbe Narzissen und Schlüsselblumen ringelten sich um die Tür und die Speichen der Räder. Rauch kräuselte sich aus einem Blechschornstein auf dem Dach. An der Seite befand sich ein einziges Fenster, und scharlachrote Vorhänge waren innen vor die Scheibe gezogen. Warmes Licht schien durch sie hindurch und warf leuchtende Quadrate auf das Gras.
    Bartholomew und Mr.   Jelliby sahen sich verwirrt um. Hier gab es keine monströsen Apparate, keine kleinen Gräber oder schwarzflügelige Sylphen, die in den Zweigen flüsterten. Woran mochte Mr.   Lickerish wohl interessiert sein, dass er seine Vögel den weiten Weg hierherschickte? Bartholomew hoffte inständig, dass Hettie sich in dem buntbemalten Wagen befand. Plötzlich war ihm jegliche Geduld abhandengekommen.
    Mr.   Jelliby stieg die Stufen zur Tür auf der Rückseite des Wagens hinauf und klopfte zweimal. »Hallo!«, rief er in einem, wie er hoffte, gebieterischen Tonfall. »Wer wohnt hier? Wir müssen mit Ihnen sprechen!«
    Im Inneren des Wagens krachte es laut, als hätte jemand vor Schreck eine Tasse oder eine Schüssel fallen lassen. »O nein. O nein, o nein, o nein«, rief eine schwächliche Stimme. »Bitte gehen Sie weg. Gehen Sie weg. Ich habe kein Geld. Kein Geld, nein, nein.«
    Mr.   Jelliby sah Bartholomew an, doch dieser erwiderte den Blick nicht. Er betrachtete aufmerksam die Tür.
    »Madam, ich versichere Ihnen, dass wir es nicht auf Ihr Geld abgesehen haben«, sagte Mr.   Jelliby. »Ich habe Ihre Adresse von einem gewissen Xerxes Ya… von einem gemeinsamen Bekannten. Und ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Madam? Alles in Ordnung?«
    In der Tür öffnete sich eine kleine Klappe, und ein Gesicht kam zum Vorschein. Mr.   Jelliby wich einen Schritt zurück und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Es war ein graues, runzeliges Gesicht, und es war von einer Fülle dünner Birkenzweige eingerahmt. Eine greise Feenfrau.
    »Sie sind nicht von der Feenbehörde, oder?«, fragte sie. »Oder vom Dornengericht? Oder von der Regierung ?«
    »Ich bin… nun ja, ich bin aus England«, erwiderte Mr.   Jelliby törichterweise.
    Die Feenfrau stieß ein nervöses Kichern aus und entriegelte die Tür. »Oh. Ich nicht. Aber kommen Sie doch erst einmal aus dem Regen herein, ja? Es sei denn, Sie mögen Regen, was ja vorkommen soll. Für Selkies zum Beispiel ist er gut, und bei Nymphen heilt er Furunkel, auch wenn ich noch nie etwas davon gehört habe, dass er… Oh!« Als sie Bartholomew sah, schlug sie die Hände vor den Mund. »Ach, der arme kleine Seltsam! Er ist ja so dünn wie eine Gräte!«
    Bartholomew versuchte, an der Fee vorbei einen Blick ins Innere des Wagens zu werfen. Dann schaute er sie an. Armer kleiner Seltsam? In ihrer Stimme schwang keinerlei Abscheu mit. Weder schien sie Angst zu haben wie der Kobold in dem Basar, noch schien sie ihm Böses zu wollen wie der Händler in der Krähengasse. Vielmehr klang sie erschrocken, weil er einem Fisch ähnlich sah – die Tatsache, dass er ein Mischling war, machte ihr offenbar nichts aus.
    Tja, dann müssen wir ihn wenigstens nicht mit Pastinaken verzehren, oder?, dachte Mr.   Jelliby, während die Feenfrau ihnen bedeutete einzutreten. Der Wagen war winzig und warm, und überall lagen und standen Pergamente und Flaschen in bezaubernden Farben. An der Decke hingen Kräuterbündel, und auf Regalen standen Kerzen, die zu phantastischen Formen zerflossen waren. Der Wagen war zu klein, um jemanden darin zu verstecken – Hettie war nicht hier.
    Die greise Fee fegte emsig die Scherben einer Tonschüssel auf dem Boden zusammen. »Ach, was für eine Unordnung«, jammerte sie. »Ich bekomme nicht oft Besuch, nein, wirklich nicht. Jedenfalls keinen

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