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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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verzweifelten Stimme stand, die gesprochen hatte. »Sie haben meine Melusine!«
    Mr.   Lickerish antwortete nicht sofort. Vor ihm war ein Schachspiel aufgestellt, und er trug mit einem kleinen Pinsel vorsichtig schwarze Farbe auf die Elfenbeinfiguren auf.
    »Wer?«, fragte er schließlich, wobei er kaum einen Blick auf die neue Erscheinung der Fee warf.
    »Die Polizei. Sie hat uns gefasst. Wir…«
    »Sie haben sie gefasst. Du konntest offenbar entkommen. Das ist gut. Ist das andere Halbblut tot? Unser kleiner Besucher?«
    Die Fee in Dr.   Harrows Schädel zögerte. Eine ganze Minute lang waren das allgegenwärtige Brummen und das leise Wischwusch, mit dem Mr.   Lickerishs Pinsel über die Schachfiguren strich, die einzigen Geräusche in dem Zimmer.
    »Nein«, sagte die Fee schließlich. »Nein. Kind Nummer zehn ist noch am Leben. Und Arthur Jelliby auch.«
    Mr.   Lickerish ließ die Schachfigur fallen. Sie landete mit einem lauten Klonk auf dem Schreibtisch und rollte davon, wobei sie ein schwarzes Farbmuster auf dem weinroten Leder zurückließ.
    »Was?« Das Wort wurde mit überraschender Kraft ausgestoßen, ein primitiver, kehliger Laut wie das Knurren eines Wolfs. Mr.   Lickerishs Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Falten und weißen Linien, und er starrte den bärtigen Mann ungläubig an, wobei seine Augen zornig funkelten. »Dreh dich um und sieh mich an, du Feigling. Was ist passiert?«
    Der Arzt wandte sich langsam um, und zum Vorschein kam das dunkle, verschrumpelte Gesicht auf der Rückseite seines kahlen Kopfes. »Er ist entkommen. Wie, weiß ich nicht. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte, aber es ist nicht meine Schuld. Er hat die Magie überlebt und ist entkommen, und Melusine…«
    »Arthur Jelliby darf nicht am Leben bleiben«, sagte Mr.   Lickerish und stand auf. Seine langen bleichen Finger zitterten, rasselten wie Knochen gegen das Holz der Armlehnen. »Er wird uns kompromittieren! Er weiß viel. Zu viel. Er darf nicht am Leben sein«, sagte er, als wollte er sich selbst überzeugen.
    »Es ist nicht meine Schuld!«
    Der Feenpolitiker fuhr zu dem bärtigen Mann herum. »Oh, Jack Box, glaube mir, und ob es deine Schuld ist. Du solltest ihn töten. Ich habe dir gesagt, du sollst ihn töten !«
    »Ich war mir sicher, dass er tot ist. Woher sollte ich wissen, dass er das überlebt? Sathir, ich habe alles getan, was du mir befohlen hast. Ich habe dir das neue Kind gebracht, oder etwa nicht? Ich habe das Haus am Belgrave Square mit einem Bann belegt und bin noch einmal zurückgegangen, um Kind Nummer zehn zu holen. Du musst mir helfen! Melusine muss unbedingt freikommen!«
    »Melusine.« Mr.   Lickerishs Stimme troff vor Verachtung. »Es kümmert mich ein Fledermausauge, was mit Melusine geschieht. Ob sie stirbt oder am Leben bleibt, hängt ganz allein von dir ab. Vorerst bleibt sie im Gefängnis. Bis du getan hast, was ich dir befohlen habe, geht sie nirgendwohin. Und wenn sie tausend Jahre in ihrer Zelle verfault.«
    Jack Box holte zitternd Luft. Waren das Tränen, die da in seinen Augenwinkeln funkelten? »Nein«, sagte er. »Nein, Du kannst sie unmöglich dortlassen. Ohne mich kann sie nicht überleben. Sie stirbt! Schreibe bitte einen Brief. Schick ein Telegramm. Die Polizei wird sie freilassen, sobald du das sagst!«
    »Aber ich werde es nicht sagen.«
    Jack Box starrte Mr.   Lickerish an. Mr.   Lickerishs Blick blieb ausdruckslos. Dann zog er eine Augenbraue hoch und griff mit blassen Fingern nach der Schachfigur, die ihm entglitten war.
    »Kind Nummer zehn. So hast du unseren kleinen Besucher genannt, habe ich recht? Finde ihn. Finde sie beide, Arthur Jelliby und das Halbblut. Und da es so aussieht, als wärst du ein völlig nutzloses, jämmerliches Feengeschöpf, wirst du sie mir lebend bringen. Ich werde mich selbst ihrer annehmen.«
    Zu Mr.   Jellibys maßlosem Erstaunen sah London am Vorabend seiner Zerstörung aus wie immer. Er hätte erwartet, dass die großartigste Stadt auf Erden an ihrem letzten Tag eine Veränderung durchmachte. Menschen, die durch die Straßen rannten, vielleicht, und ihre Truhen und Silberteller hinter sich herzerrten. Flammen, die aus den Fenstern loderten. Eine Panik, so greifbar, dass man sie schmecken konnte. Während Bartholomew und Mr.   Jelliby in einer Kutsche den Strand entlangfuhren, war jedoch das Einzige, was in der Luft lag, der ölige schwarze Qualm, der aus den Augenhöhlen eines stark verrosteten Straßenkehrers aufstieg, und

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