Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
Kutsche wieder. Seine Arme und Beine fühlten sich schwer an, so schwer wie die Äste eines Baumes. Er setzte sich auf und warf einen verstohlenen Blick zum Fenster hinaus.
    London. Seine Mutter hatte ihm von dieser Stadt erzählt. Von der riesigen, weitentfernten Metropole, in der die Gesetze gemacht wurden und das Geld und wo es die atemberaubendsten Shows gab und die prächtigsten Music Halls. Wo die Straßen unermesslich breit waren und die Leute trotzdem mit Ballons fliegen mussten, um etwas Luft zu bekommen.
    Es war eine völlig andere Stadt als Bath, das war klar, aber Bartholomew fand nicht, dass sie allzu einladend wirkte. Mutter mochte sie wahrscheinlich nur, weil hier nicht so viele Feen lebten. Immerhin, ein paar hatte er entdeckt – die Flammenfeen in den Straßenlaternen, einen Kobold, der eine Herde Ziegen vor sich hertrieb, und eine Handvoll spriggischer Hausmädchen, die mit müdem Blick den Gehsteig entlangeilten, zugedeckte Weidenkörbe in den Händen. Bartholomew meinte, ein oder zwei magische Gehstöcke gesehen zu haben, von der Sorte, die mit lieblichen Stimmen sangen. Aber das war alles. Es gab keine tanzenden Wurzeln, keine Gesichter in Türen und auch keine Bäume. Nicht einmal irgendwelche Rankengewächse, die sich an den rußgeschwärzten Mauern emporwanden.
    »Sind wir bald da?«, fragte er und wandte sich zu Mr.   Jelliby um. Die Landkarte war vor dem Gentleman ausgebreitet und nahm die halbe Kutsche ein. Er brütete mit gerunzelter Stirn darüber, die Augenbrauen bis zur Nasenwurzel herabgezogen.
    »Mr.   Jelliby?« Bartholomews Stimme war leise, aber drängend. Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Hettie und diese Sylphen mit den schwarzen Flügeln befanden sich in der Gewalt des Justizministers, und wahrscheinlich hatte er auch den Zaubertrank der Grünhexe. Viel Zeit blieb ihnen bestimmt nicht.
    Mr.   Jelliby schaute auf. »Oh. Guten Morgen. Ich habe einen kleinen Umweg genommen, aber keine Angst. Wir sind auf dem richtigen Weg. Alle tot in ihren Betten, hat die Grünhexe gesagt. Mr.   Lickerish wird das Portal in der Nacht öffnen, und es ist noch nicht einmal vier Uhr.«
    Einen Umweg? Das Portal mochte sich erst in der Nacht öffnen, aber das bedeutete nicht, dass Hettie in Sicherheit war.
    »Wie lange brauchen wir denn noch, bis wir dort sind?«
    »Eine Stunde. Vielleicht zwei – das hängt vom Verkehr ab. Und davon, ob ich mich damit zurechtfinde. Bisher ist mir das noch nicht geglückt.« Die Runzeln auf seiner Stirn wurden, während er die Karte betrachtete, noch tiefer. »Dem Längengrad und Breitengrad zufolge liegt unser Ziel in Wapping in den Docklands. Aber die Höhenangabe! Einhundert Meter in der Luft! Das ergibt einfach keinen Sinn.«
    »Vielleicht ist es ein Turm«, sagte Bartholomew und streckte langsam seine schmerzenden Beine aus. »Heutzutage bauen sie ziemlich hohe Türme.«
    Er fühlte sich hundsmiserabel. Seine Gelenke taten weh, und er war müde und wirklich dreckig. Er wünschte, er wäre wieder zu Hause. Nicht in dem leeren Haus, wo alle schliefen, sondern in dem Zuhause, bevor das alles passiert war. Wenn Mutter mit der Wäsche fertig war, erlaubte sie ihm manchmal, sich mit dem Wasser zu waschen, während es noch warm war. Dann roch es nach Lavendel, und da Hettie als Erste darin badete, schwammen Rindenstücke und Zweige darin. Was hatte er deswegen nicht für ein Theater gemacht! Einmal war Hettie daraufhin in Tränen ausgebrochen und hatte ihre Haarzweige eine Woche lang unter einem Laken versteckt. Hinterher hatte er sich wirklich mies gefühlt, aber jetzt ging es ihm noch schlechter. Wenn er erst wieder in Bath war, bei Hettie und Mutter, würde er Hettie nie wieder zum Weinen bringen. Er würde nie wieder zulassen, dass ihr etwas Schlimmes passierte.
    »Aber nicht hundert Meter hoch«, sagte Mr.   Jelliby in nüchternem Tonfall. »Mr.   Zerubbabel hat so etwas erwähnt, glaube ich. Dass die Adresse irgendwo hoch oben in der Luft ist, und eine Fee namens Bonifaz und… Ach, ich weiß es einfach nicht mehr!« Er sog wütend die Luft ein und fing an, die Karte zusammenzufalten. »Bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Wapping zu fahren und zu schauen, was wir dort vorfinden.«
    Bartholomew sah zu ihm hinüber. »Hettie ist bestimmt dort.«
    Mr.   Jelliby hörte auf, die Karte zu zerknittern, und sah auf. Er lächelte. »Ja«, sagte er, »Hettie ist bestimmt dort.« Und das war alles.
    Bartholomew wusste sofort, dass sie die Docklands erreicht

Weitere Kostenlose Bücher