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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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aufhalten wollen?«
    Mr.   Jelliby trank einen großen Schluck Tee. Er wusste es nicht. Bisher kannte er nur Bruchstücke – den Vogel, die Botschaft, das Gespräch im Palast –, aber einen Sinn ergaben sie nicht.
    Die greise Fee rutschte mit ihrem Stuhl ein wenig näher zu ihnen heran. »Er wird ein neues Feenportal öffnen, was sonst.«
    Mr.   Jelliby blinzelte sie über den Rand seiner Teetasse hinweg an. Bartholomew räusperte sich leise, ein Geräusch zwischen einem Keuchen und einem Husten.
    »Das wussten Sie nicht?« Sie kicherte und schob den Stuhl noch ein Stück weiter vor. »Ja. Ein Feenportal. Er möchte ein neues Feenportal öffnen. Und zwar bald, glaube ich. Morgen. Beim letzten Mal ist das ganz von selbst geschehen, verstehen Sie? Ein Naturphänomen, bei dem eine ganze Reihe unglücklicher Umstände zusammenkamen. Risse zwischen den Welten gab es schon immer, Risse, durch die Dinge hin- und herschlüpften. Es gibt zahlreiche Geschichten über Menschen, die es in das Alte Land verschlagen hat. Dieses neue Portal aber, das wird kein Riss sein. Und es wird auch nicht von selbst entstehen. John Lickerish erschafft es. Er befiehlt es ins Dasein. Eine gewaltige Pforte mitten in London. Mitten in der Nacht.«
    Mr.   Jelliby knallte seine Tasse auf den Tisch. »Aber damit richtet er doch ein Blutbad an!«, rief er entgeistert aus. »Ophelia und Brahms… Das wird ein zweites Bath!«
    »Viel schlimmer«, sagte die Fee, und ihr Gesicht wurde von einem Lächeln gespalten, bei dem sie ihre sämtlichen Zähne bleckte.
    Mr.   Jelliby bekam eine Gänsehaut. »Das klappt bestimmt nicht«, sagte er und schaute demonstrativ auf einen Knoblauchzopf, der über dem Kopf der Fee hing. »Die Glocken. Die Glocken werden es verhindern. Sie läuten unentwegt. Alle fünf Minuten. Mr.   Lickerish wird gar nicht dazu kommen, einen Zauber zu wirken.«
    »Aah. Die Glocken.« Das Grinsen der Fee wurde noch breiter. »In Bath gab es auch Glocken. Und Eisen und Salz und nicht wenige Uhren, und trotzdem landete es sechs Meilen nördlich des Mondes. Gegen eine Magie wie diese helfen Glocken nichts. Kann sein, dass sie einen Wichtel daran hindern, einem eine Warze zu verpassen, oder dass sie einen unbedeutenden Zauberspruch vermasseln, aber gegen ein Feenportal sind sie machtlos. Gegen eine Straße in das Alte Land ist kein Kraut gewachsen.«
    »Aber was sollen wir tun?« Mr.   Jelliby schrie beinahe. »Wir können doch nicht nur hier herumsitzen! Wie halten wir es auf?«
    » Ich weiß das nicht.« Die Fee war inzwischen ganz nahe an sie herangerückt. Mr.   Jelliby war sich sicher, dass er sie riechen konnte – Blumen und Rauch und saure Milch. »Das ist ein komplizierter Vorgang, so ein Feenportal zu öffnen. Ich begreife das nicht. Und ich will es auch nicht begreifen. Ich weiß nur, dass Mr.   Lickerish einen bestimmten Sud dafür benötigt. Aus pflanzlichen und tierischen Bestandteilen. Den hat er von mir bekommen. Einen Bindungstrank, genau genommen. Damit ködert man sogenannte ›Halbschattensylphen‹, ganze Schwärme davon, und dann müssen sie tun, was man ihnen befiehlt. Wofür er die Sylphen braucht, weiß ich allerdings nicht. Ich bin nur ein dünner Faden. Ein dünner Faden in einem riesigen Spinnennetz.« Sie ließ ihre Finger über den Tisch trippeln.
    »Er schickt mir Botschaften mit einem mechanischen Vogel. Einem Vogel aus Metall, haben Sie von so etwas schon gehört? Und ich tue, was sie mir sagen. Aber diese Mischlinge…« Das Grinsen verschwand von ihrem Gesicht, und sie lehnte sich wieder in ihren Schaukelstuhl zurück. »Warum er das macht, weiß ich nicht. Die armen, armen Geschöpfe. Ich weiß nicht, warum er sie tötet. Ich habe neun Flaschen nach London geschickt. Kleine Flaschen. Winzig kleine. Und… soweit ich weiß, hat es neun Todesfälle gegeben. Sie kommen aus London, richtig? Das habe ich an dem Schmutz an Ihren Schuhen erkannt. Vielleicht hat er immer und immer wieder versucht, das Portal zu öffnen. Neunmal. Neunmal hätten Sie in Ihren Betten sterben können, und neunmal wurden Sie verschont.« Ihr Blick wandte sich zum Fenster. »Ich wollte niemandem etwas tun. Ehrlich nicht. Und als ich von den Mischlingen im Fluss gehört habe, wusste ich sofort, dass er dahintersteckt. Aber ach, daran will ich gar nicht denken. Mir blieb ja nichts anderes übrig. Was hätte ich denn tun sollen?« Ihre Frage klang fast flehentlich.
    Bartholomew blickte von seinen Stiefeln auf. »Was soll das heißen,

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