Die Seltsamen (German Edition)
was rennende Menschen betraf – nun, auch davon gab es nicht eben viele. Das Meer aus Zylindern tanzte ebenso unaufhaltsam die Fleet Street entlang wie eh und je. Straßenbahnen und Busse dampften, dreckig wie eh und je, den Fabriken und Kais entgegen. Vierspänner polterten so erhaben wie eh und je übers Pflaster, und ihnen entstiegen vornehm gekleidete Fahrgäste, die in eleganten Cafés und Geschäften verschwanden. Keiner von ihnen ahnte, wie bald all das ein Ende finden würde. Dann würden ihre Häuser in Trümmern liegen, die Straßen würden leer sein, und die Räder der umgestürzten Kutschen würden sich im Wind drehen.
Mr. Jelliby ließ den Fenstervorhang wieder fallen und sank gegen das glänzende, mit Leder gepolsterte Kopfbrett zurück. Er und Bartholomew waren früh an jenem Morgen in Leeds eingetroffen, nass und verfroren und elend. Sie hatten gerade noch den Sieben-Uhr-Zug nach London bekommen, und bis sie in die Hauptstadt einfuhren, waren ihre Socken beinahe wieder trocken gewesen. Am verkehrsreichen Platz vor der Paddington Station hatten sie einer Kutsche gewunken. Mr. Jelliby hatte entdeckt, dass seine Pistolen fort waren, aber in dem Moment hatte er größere Sorgen. Er wies den Kutscher an, sie direkt zum Belgrave Square zu bringen.
Er hatte Bartholomew nicht gesagt, wohin sie fuhren, und er hatte es ihm auch nicht sagen wollen. Im Gegenteil – er war erleichtert gewesen, als die ersten trägen Atemzüge aus der anderen Ecke der Kutsche ihm verrieten, dass sein Begleiter schlief.
Am Rand des Platzes bedeutete Mr. Jelliby dem Kutscher, er möge anhalten, und spähte hinaus. Dort stand sein Haus – groß, prachtvoll, weiß und nur zehn Meter weit weg. Die schweren Wintervorhänge waren zugezogen. Im ersten Stock waren die Fensterläden geschlossen. Und vor dem Tor parkte, für alle Welt sichtbar, eine schwarze Dampfkutsche mit dem Silberemblem der Londoner Polizei.
In einem der oberen Fenster bewegte sich ein Vorhang. Ein Gesicht erschien dort – Ophelia spähte heraus. Sie war sehr blass, und ihre Hand lag an ihrem Hals. Das hatte Mr. Jelliby das letzte Mal an ihr gesehen, nachdem der Brief mit der Nachricht vom Tod ihres Vaters eingetroffen war.
Mr. Jelliby stieß einen Fluch aus und vergrub den Kopf in den Händen. Sie war nicht fortgegangen. Bestimmt war sie furchtbar wütend auf ihn, völlig verwirrt und krank vor Sorge. Sämtliche Anwohner des Belgrave Square würden sich ihren eigenen Reim darauf machen, warum die Polizei vor Mr. Jellibys Türschwelle ausharrte, und keiner von ihnen würde richtigliegen.
Was meinst du, Jemima, was hat Mr. Jelliby dieses Mal verbrochen? Wahrscheinlich hat er jemanden ermordet. Mit einem Messer.
Na schön, sollten sie doch von ihm denken, was sie wollten. Aber nicht Ophelia. Am liebsten wäre er aus der Kutsche gestürzt und zum Haus hinübergerannt, um ihr zu erklären, dass alles nur Lügen waren, dass sie aus der Stadt fliehen musste und dass alles, was die Polizei ihr erzählt hatte, nicht der Wahrheit entsprach. Bis zur Haustür war es nur ein kurzer Sprint. Aber dann bekämen sie ihn zu fassen. Das Haus oder die Polizei. Und wer wusste schon, ob Ophelia ihm glauben würde, wenn er von mörderischen Justizministern und magischen Portalen und dem Untergang Londons faselte? Die Polizisten würden ihn mit sich fortschleppen und ihn wahrscheinlich in eine Nervenheilanstalt stecken. Ophelia würde ihn mit traurigem, ernstem Blick ziehenlassen. Nein, Mr. Jelliby konnte nicht nach Hause gehen. Erst musste er einen Weg finden, Mr. Lickerish das Handwerk zu legen.
Mit einem langen Seufzer streckte Mr. Jelliby die Hand zum Fenster hinaus und bedeutete dem Kutscher weiterzufahren. Die Droschke setzte sich in Bewegung und rollte in Richtung Bishopsgate und Fluss. Jetzt würden sie die letzten Koordinaten aufsuchen. Morgen würde sich niemand mehr um Tratsch und Skandale kümmern. Entweder er würde Mr. Lickerish als das bloßstellen, was er wirklich war, und zum Helden seines Zeitalters werden, oder das Feenportal würde sich öffnen. Und wenn sich das Feenportal öffnete, dann wäre Mr. Jelliby mit Sicherheit tot. Und Ophelia wäre tot, Bartholomew wäre tot und seine kleine Mischlingsschwester ebenfalls. Dann wäre fast ganz London tot.
Mr. Jelliby schob diese Gedanken beiseite, zog die Landkarte wieder hervor und begann, sie eingehend zu studieren.
Allmählich regte sich Bartholomew in seiner Ecke der
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