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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Oder vielleicht doch. Vielleicht ein wenig. Meine Erinnerungen an das letzte Mal sind furchtbar verschwommen, das ist alles. So verschwommen und weit weg. Ich bin in meinem Bett in einer Baumkrone aufgewacht, und…« Der Blick der Grünhexe trübte sich. »Mama. Mama hat Taschen gepackt. Sie hat gesagt, wir sollen uns beeilen, weil in der Stadt des Schwarzen Gelächters ein großes Wunder im Gange ist. Und ich weiß noch, wie wir gelaufen sind, immer weiter. Damals war ich noch sehr jung. Mir kam es vor, als wären wir hundert Nächte lang unterwegs gewesen, aber wahrscheinlich stimmt das nicht. Und dann schwebte da eine Tür. Wie ein Riss im Himmel, mit Rändern aus schwarzen Flügeln. Um uns herum schneite es Federn. Wir traten hindurch, aber ich weiß nicht mehr, wie es von der anderen Seite aus aussah. Ich habe mich nicht umgedreht. Nicht ein einziges Mal. Erst als es zu spät war. Vielleicht war die Tür riesengroß, vielleicht war sie winzig. Tausend von uns passten gleichzeitig hindurch, aber das war alles Magie, das Portal. Gut möglich, dass es nicht größer war als meine Nase.« Sie wackelte mit der Nase. »Das Portal in London kann alles sein. Und überall. Ein Mauseloch in einem Schrank. Der Marble Arch in der Park Lane.«
    Sie lächelte wehmütig und rieb mit dem Daumen über einen Sprung in ihrer Teetasse. »Ich würde gerne zurückkehren, wissen Sie. In das Alte Land. Nach Hause.« Sie sah Bartholomew an, ihre blauen Augen blass und wässrig. Dann stellte sie die Tasse hin und legte die Hände an ihre Ohren. »Am besten nicht drüber nachdenken. Am besten. Nicht drüber nachdenken! Mr.   Lickerishs Pläne werden zu nichts Gutem führen. Nicht für mich. Nicht für mich, nicht für irgendjemand sonst.«
    Eine ganze Weile lang herrschte Schweigen in dem Wagen. Das Feuer knisterte in dem kleinen Herd. Draußen in den Bäumen heulte traurig eine Eule.
    Schließlich stand Mr.   Jelliby auf. »Also gut. Wir gehen besser. Danke für den Tee.«
    Die Grünhexe fing wieder an zu reden und erhob sich aus ihrem Stuhl, um sie aufzuhalten, wobei sie fast hingefallen wäre, aber Mr.   Jelliby entriegelte bereits die Tür und trat in die Nacht hinaus. Bartholomew zog sich die Kapuze ins Gesicht und folgte ihm.
    Auf der Lichtung blieb Mr.   Jelliby stehen, atmete tief durch und wandte sich zu Bartholomew um. »Hat wirklich einen Sprung in der Schüssel, die Guteste. Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Welt retten wollen.«
    Sie stapften aus dem Kreis aus Wärme heraus, der sich um den Wagen gelegt hatte, und in den feuchten Wald hinein.
    »Die Welt ist mir egal«, murmelte Bartholomew vor sich hin. »Ich will nur Hettie finden.«
    Die greise Fee stieg von ihrem Wagen herunter und blickte ihnen nach, auch dann noch, als die Nacht sie längst verschluckt hatte.
    Stunden vergingen. Sie stand so reglos da, dass man sie fast mit einem Baum hätte verwechseln können. Schließlich stieß ein Federwerksperling auf die Lichtung herab und landete zu ihren Füßen im taubenetzten Gras. Sie hob ihn auf, löste die Messingkapsel von seinem Bein und nahm die Nachricht heraus.
    Freue dich, Schwester, stand da in der vertrauten krakeligen Handschrift von Mr.   Lickerish. Kind Nummer elf erfüllt alle unsere Hoffnungen. Bereite den Trank. Mache ihn so stark wie nie, und schicke ihn zum Mond. Dieses Mal wird uns das Portal nicht enttäuschen. In zwei Tagen, wenn die Sonne aufgeht, wird es über den Ruinen von London aufragen, der Vorbote eines glorreichen neuen Zeitalters.
    Und ein Symbol für den Niedergang der Menschheit.
    Für sie wird die Sonne nicht mehr aufgehen.
    Das Qualmzeitalter ist vorbei.
    Ein breites Grinsen zog sich quer über das ganze Gesicht der greisen Fee. Langsam rollte sie die Nachricht wieder zusammen und schob sie in die Kapsel zurück. Dann holte sie eine Pistole unter ihrer Schürze hervor. Sie war neu, erst vor Kurzem auf dem Feenmarkt gekauft – die eine Hälfte eines Paars. Die andere befand sich im Wagen, flugs hinter dem Herd versteckt. Sie hob die Pistole und richtete sie dorthin, wo die beiden Gestalten im Wald verschwunden waren.
    Peng, sagte sie tonlos und kicherte leise.

SIEBZEHNTES KAPITEL

    Die Wolke, die den Mond verbirgt
    »Mi Sathir, sie haben sie!« Vor dem Schreibtisch von Mr.   Lickerish stand ein kleiner bärtiger Mann. Um seine Nase war ein Verband gewickelt, und sein Gesicht war kreidebleich, doch ansonsten wirkte er völlig ruhig, was gänzlich im Widerspruch zu der rauhen,

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