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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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hatten. Der Geruch von Fisch und verdrecktem Wasser drang in die Kutsche. Die Straßen wurden breiter, damit die riesigen eisernen Dampffahrzeuge hindurchpassten, die das Frachtgut transportierten, und die Straßen waren auch nicht mehr von Häusern gesäumt, sondern von Lagerhallen und ganzen Wäldern aus Masten, deren Spitzen gerade so über die Dächer hinausragten.
    »Wapping«, sagte Mr.   Jelliby, und kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, als die Kutsche auch schon vor einem großen Steingebäude zum Stillstand kam. Für Bartholomew sah es aus wie die riesigen Bahnhöfe, an denen sie ein- und ausgestiegen waren, wie Paddington und der Bahnhof in Leeds, nur verlassener, ohne das Getöse und die Lokomotiven. Es hatte große rußgeschwärzte Fenster und ein niedriges Blechdach, das mit Türmchen und Giebeln verziert war. An der Vorderseite befand sich ein einziges, etwa zehn Meter breites Tor. Vom Dach erstreckte sich ein dickes Metallkabel himmelwärts. Sein Blick folgte ihm hinauf, hinauf, hinauf…
    Mr.   Jelliby stieß einen leisen Pfiff aus.
    Das war sie. Die letzte Adresse. In einer Höhe von einhundert Metern über dem Kai schwebte, einer drohenden Gewitterwolke gleich, ein Luftschiff. Seine Hülle war riesig und glatt und schwärzer als Rauch und Krähen, schwärzer als alles an dem düsteren Himmel. Unter der Kabine drehten sich langsam drei Propeller.
    »Einhundert Meter«, sagte Mr.   Jelliby leise. »Da ist er sicher, wenn sich das Portal öffnet.«
    Sie stiegen aus der Kutsche und näherten sich, während sie weiterhin zu dem Luftschiff hinaufstarrten, langsam dem Lagerhaus. Das Gebäude befand sich in einem äußerst abgelegenen, äußerst dunklen Teil des Hafens. Abfall häufte sich an der Außenwand. Zeitungen und Flugblätter huschten über das Pflaster. Hafenarbeiter waren keine zu sehen. Nur ein grauhaariger alter Seemann saß ein Stück die Straße hinunter auf einem Fass. Er hatte eine Pfeife im Mund. Und beobachtete sie beide.
    Mr.   Jelliby gab dem Kutscher ein Zeichen, dass er ihn nicht mehr brauchte, und lief an der Vorderseite des Lagerhauses entlang. Bartholomew folgte ihm, wobei er sich argwöhnisch umsah. Sie versuchten, durch eines der Fenster zu schauen, konnten jedoch nichts erkennen. Die Scheibe war vollständig dunkel, als hätte sie jemand von innen mit schwarzer Farbe bemalt.
    »Wir werden einbrechen müssen«, sagte Mr.   Jelliby trocken. »Hier öffnet Mr.   Lickerish bestimmt sein Portal. Vielleicht ist es sogar ebendiese Tür. Die Tür des Lagerhauses.«
    Bartholomew blieb an der Ecke des Gebäudes stehen und hielt Wache, während Mr.   Jelliby in die Gasse schlüpfte, die an der Nordwand des Lagerhauses entlangführte. Nach ein paar Metern stieß er auf einen Haken, der fast ganz unter einem Haufen schleimiger, glotzäugiger Fische verborgen lag. Er hob ihn auf und klopfte damit gegen eine Fensterscheibe, und zwar möglichst vorsichtig, um nicht so viel Lärm zu machen, aber beim dritten Klopfen barst die Scheibe nach innen. Glasscherben fielen klirrend in den Raum dahinter. Er warf Bartholomew einen fragenden Blick zu. Der Junge nickte – die Luft war rein.
    Mr.   Jelliby spähte durch das eingeschlagene Fenster. Im Inneren des Lagerhauses herrschte Zwielicht. Kaum konnte er die Holzkisten erkennen, die sich wie Klippen und Türme zur Decke erhoben. In dem Lichtstrahl, der durch das Loch in der Scheibe hineinfiel, sah er auch, dass der Boden geschwärzt war wie von einem Feuer.
    »Psst«, zischte er Bartholomew laut zu. »Bartholomew? Bartholomew! Los, komm!«
    Bartholomew warf einen letzten Blick zum Kai hinüber, dann flitzte er die Gasse entlang.
    »Wir steigen ein«, sagte Mr.   Jelliby. Er hob den Haken, zerschlug die Scheibe noch etwas mehr und kratzte das Glas mit der Spitze weg. Als das Loch so groß war, dass sie hindurchklettern konnten, hievte er Bartholomew auf den Sims und kletterte hinterher. Beide ließen sie sich in das Lagerhaus fallen.
    Im Inneren hallte jedes Geräusch lange nach. Der Raum war riesig und dunkel, und jedes Schlurfen, jeder Atemzug schwebte auf Metallschwingen zum Dach hinauf. Wenn die Geräusche zu ihnen zurückgeworfen wurden, wirkten sie unheimlich und weit weg, als glitten irgendwelche Geschöpfe flüsternd durch das Gebälk.
    Bartholomew ging ein paar Schritte vorwärts. Ein sonderbarer Geruch kitzelte seine Nase. Im Halbdunkel über ihm waren Haken zu erkennen, die an Flaschenzügen und langen Ketten hingen. Irgendwo

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