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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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am anderen Ende des Lagerhauses konnte er Wasser hören, das über Stein plätscherte.
    »Das ist ein Ladedock«, sagte Mr.   Jelliby. »Das Lagerhaus geht direkt bis an die Themse. Die toten Mischlinge… bestimmt sind sie hier in den Fluss geworfen worden.«
    Bartholomew erschauderte und machte einen Schritt auf Mr.   Jelliby zu. Hettie. Angestrengt sah er sich in der Düsternis um. Ist sie hier irgendwo? Ist hier überhaupt irgendetwas?
    Plötzlich packte er Mr.   Jelliby am Arm, und zwar so fest, dass dieser erschrocken zusammenzuckte.
    »Was zum…«, sagte Mr.   Jelliby, aber Bartholomew ließ ihn nicht los.
    »Hier ist jemand«, sagte er ganz leise. Er hob einen Finger und deutete auf einen schmalen Spalt, der wie ein Durchgang in den Wall aus Kisten hineinführte.
    Da war wirklich jemand. Weit hinten im Halbdunkel stand ein einfacher Holzstuhl, auf dem sich die Umrisse einer Gestalt abzeichneten – einer Gestalt, die sehr still und weit zurückgelehnt dasaß. Eine Hand hing schlaff herab, so dass die Fingerspitzen den Boden berührten.
    Mr.   Jellibys Herz setzte einen Schlag aus. Er versuchte zu schlucken – vergebens – und bedeutete Bartholomew, er solle bleiben, wo er war.
    »Hallo«, rief Mr.   Jelliby und machte einen Schritt auf die Gestalt zu. Seine Stimme hallte kalt und hohl durch die Finsternis, wie eine Glocke, die nass geworden.
    Die Gestalt auf dem Stuhl rührte sich nicht. Beinahe schien sie zu schlafen. Sie hatte die Beine lang ausgestreckt und den Kopf in den Nacken gelegt.
    Mr.   Jelliby ging ein Stück weiter und blieb dann wie angewurzelt stehen. Es war der Arzt aus dem Gefängnis in Bath. Dr.   Harrow, der die Abteilung für Sídhe-Studien leitete. Seine Augen standen weit offen, aber sie waren nicht mehr blau. Sie waren trübe und blind, so grau wie ein verregneter Himmel. Dr.   Harrow war tot.
    Mr.   Jelliby wich zurück. Abscheu und blankes Entsetzen hatten ihn an der Kehle gepackt.
    »Wer ist es?«, flüsterte Bartholomew hinter ihm. »Mr.   Jelliby, was ist…«
    Mr.   Jelliby drehte sich um. Öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Glas zersplitterte auf Stein. Das Fenster, durch das wir geklettert sind. Er fuhr herum. Das Fenster war leer, aber gerade war dort noch etwas gewesen. Scherben klimperten über den Boden.
    »Bartholomew«, zischte er. »Bartholomew, was war das?«
    »Da ist was reingekommen«, flüsterte Bartholomew voller Angst. Er schaute sich um, verzweifelt darum bemüht, in dem Halbdunkel etwas zu erkennen. »Da ist etwas.«
    In dem Moment wurden die Ränder eines Kistenstapels in orangenes Licht getaucht. Es wurde stetig heller und breitete sich über die Oberfläche des Holzes aus. Dann trat eine Gestalt hinter dem Stapel hervor. Der Lichtschein stammte von einer Pfeife. Die Pfeife steckte zwischen den zusammengekniffenen Lippen des alten Seemanns. Er war ihnen gefolgt.
    Der Seemann schlurfte, den Kopf gesenkt, langsam weiter, und der Schein seiner Pfeife flackerte bei jedem Schritt. Dann blieb er stehen.
    Etwas regte sich in der Dunkelheit hinter ihm, und plötzlich wurde er so schlaff wie eine Fahne, wenn der Wind abflaut. Ein sich windender Schatten kletterte ihm auf die Schulter, und Augen wie Stecknadelköpfe leuchteten auf.
    Kind Nummer zehn, sagte eine Stimme in Bartholomews Kopf.
    Dem Seemann fiel die Pfeife aus dem Mund, aber nicht bevor Bartholomew einen Blick auf das erhaschte, was da gesprochen hatte. Was er sah, bereitete ihm eine Gänsehaut.
    Der Parasit auf dem Hinterkopf der Dame, der Schatten auf dem Dachboden, die Kreatur, die in der Krähengasse über das Pflaster geglitten war – jetzt hatte sie sich in eine Schar Ratten verwandelt. Sie hatte keine Füße außer den trippelnden Klauen der Ratten, keine Hände außer den fetten, braunen, ineinander verschlungenen Rattenschwänzen. Das missgestaltete Gesicht schien sich wie eine Maske über das verfilzte Fell seiner Opfer zu spannen.
    Mr.   Jelliby packte Bartholomew am Arm und zog ihn gerade in dem Moment, als sich der Blick des Ungeheuers auf sie richtete, hinter eine eiserne Winde.
    »Versteck dich«, hauchte er. Bartholomew nickte, und sie wichen in die Kluft zwischen den Kisten zurück.
    Es ist sinnlos, wegzulaufen, mein Junge. Ich kann dich spüren.
    Bartholomew hielt den Blick gesenkt und setzte einen Fuß vor den anderen. Wer auch immer da leblos auf dem Stuhl am Ende des Durchgangs hockte… er wollte es gar nicht mehr wissen. Er roch den Tod, der in der Luft lag, und das

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