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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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den Armen gepackt. Sie waren genauso kalt wie der Wind.
    »Du hättest mit dem Leben davonkommen können, weißt du«, sagte die Fee und zog die Schwänze so fest zusammen, dass es weh tat. »In der Krähengasse bist du mir entwischt, und auf dem Polizeirevier auch. Und dann kommst du den ganzen weiten Weg nach London, um deine Schwester zu befreien. Nur um zu sterben.«
    Ich werde nicht sterben, dachte Bartholomew. Und Hettie genauso wenig. Aber er sagte nichts. Er verdrängte die Stimme der Rattenfee und wich vom Geländer zurück. Der Aufzug fuhr immer höher hinauf. Ganz London lag vor ihm, ein schwarzer, schwelender Teppich aus Dächern und Schornsteinen, die sich meilenweit in alle Richtungen erstreckten. In der Ferne die Türme von Westminster. Ein wenig näher, wie der Daumen Gottes, die große weiße Kuppel von St.   Paul’s.
    Bartholomew schaute nach oben; das Luftschiff wurde immer größer. Es war so riesig, dass seine schwarze Hülle den ganzen Himmel verschlang. An seiner Unterseite hing eine kolossale Kabine, die es mit jedem Haus aufnehmen konnte; sie war zwei Stockwerke hoch, und in den Reihen zweigeteilter Fenster spiegelten sich die düsteren Wolken. Am Bug der Kabine prangten, unter einer verschnörkelten Explosion geschnitzter schwarzer Flügel, in geschwungenen Silberlettern die Worte Die Wolke, die den Mond verbirgt.
    Bartholomew biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Was für ein alberner Name für ein Luftschiff. Er schloss die Augen. Hoffentlich hielt Mr.   Lickerish Hettie dort oben gefangen, sonst…
    Als der Aufzug endlich im Bauch des Luftschiffs verschwand, spürte er kaum noch seine Finger. Die verschwenderische Einrichtung der Räume hüllte ihn ein wie ein Pelzmantel. Hier war es angenehm warm. Kein Lüftchen wehte mehr. Überall um ihn herum flimmerte die Holzvertäfelung, der die Gaslampen einen kupferfarbenen Glanz verliehen. Indische Teppiche bedeckten den Boden. Ein großes Gemälde an der Decke zeigte einen schwarzen Vogel – einen Raben oder eine Krähe, Bartholomew wusste es nicht. Im Schnabel hielt er eine Flasche, in den Krallen ein Kind, und in seiner gefiederten Brust waren kleine Holztüren. Bartholomew starrte ihn an.
    »Hör auf zu glotzen«, blaffte die Rattenfee und stieß ihn eine ausladende Treppe hinauf. »Tu nicht so, als hättest du das alles noch nie gesehen.«
    Die Treppe mündete in einen schmalen, hellerleuchteten Korridor. Die Rattenfee schob Bartholomew vor sich her. Vor der allerletzten Tür blieben sie stehen. Die Fee klopfte ein Mal und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein.
    Bartholomew riss die Augen auf. Es war das Zimmer. Das wunderschöne Zimmer mit den bemalten Lampenschirmen und den Bücherregalen, dem Kreidekreis auf dem Boden und den Federwerksperlingen. Das Zimmer, in das er aus dem Wirbel schwarzer Flügel hineingestolpert war. Nur dass dieses Mal jemand hinter dem Schreibtisch saß. Ein bleiches, drahtiges Feenwesen, das einen leuchtend roten Apfel aß und ganz in Schwarz gekleidet war.
    Die Fee blickte jäh auf, als sie eintraten. Saft rann ihr übers Kinn, und kleine Schalenstückchen klebten ihr an den Lippen.
    »Ich habe ihn, Lickerish. Was ist jetzt mit Melusine?«
    Der Justizminister schwieg. Er tupfte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab und richtete seinen durchdringenden Blick auf Bartholomew.
    Die Rattenfee stieß Bartholomew zum Schreibtisch – Dutzende winziger Mäuler knabberten an seinen Schultern und Waden und trieben ihn vorwärts. Der Justizminister sagte noch immer nichts. Er faltete das Taschentuch zusammen. Legte es beiseite. Griff nach einer winzigen Metallfeder und drehte sie langsam zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Als Bartholomew nur noch Zentimeter entfernt war, hielt Mr.   Lickerish inne. »Ah«, sagte er, »da bist du ja wieder.«
    Bartholomew knirschte mit den Zähnen. »Lassen Sie meine Schwester frei«, sagte er. »Ich will sie wiederhaben. Warum können Sie nicht einfach Ihr blödes Portal öffnen und Hettie in Frieden lassen?«
    Die Feder brach entzwei. »Hettie in Frieden lassen?« Der Feenpolitiker atmete tief durch. »Ach, ich fürchte, das ist nicht möglich. Hettie ist von entscheidender Bedeutung. Hettie ist das Portal.«

ACHTZEHNTES KAPITEL

    Der Seltsame
    Mr.   Jelliby tat so, als wäre er eine Leiche. Er saß, in Düsternis versunken, auf dem Stuhl und wagte nicht, sich zu bewegen, wagte nicht zu atmen, bis Bartholomew und die Rattenfee fort waren.
    Es dauerte nicht

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