Die Seltsamen (German Edition)
lange, da wusste er, dass die unheimliche Kreatur auf seinen Trick hereingefallen war. Er hob ein Augenlid. Die Stimme der Fee hallte durch die unermessliche Weite des Lagerhauses und wurde dann von einem mechanischen Klappern und Zischen übertönt. Mr. Jelliby öffnete beide Augen und stand auf. Er schlich sich an einem von Dr. Harrows Schuhen vorbei, dessen zerschrammte und mit Schlamm verschmierte Spitze aus einem Spalt zwischen zwei Kisten ragte, und stahl sich aus seinem Versteck.
Er hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als ihn ein lautes Dröhnen hochschauen ließ. Mattes Licht durchflutete das Lagerhaus – ein ganzes Stück des Daches glitt beiseite, sodass er den Himmel sehen konnte und das Luftschiff, das unter den Wolken hing. Die Nacht zog herauf. Ein dampfbetriebener Aufzug glitt sanft schaukelnd an dem Ankerkabel nach oben. Die Kabine war nicht geschlossen, und Mr. Jelliby konnte die beiden Passagiere gut erkennen. Die Rattenfee stand aufrecht da, Arme und Beine um das Geländer geschlungen. Neben ihr kauerte Bartholomew auf dem Boden.
Mr. Jelliby huschte zwischen den Kisten hervor. Inzwischen hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Die Luft war nasskalt, von der Decke tropfte die Feuchtigkeit herab, und auf den Kistentürmen hatte sich Moos gebildet. Kräne mit Haken daran hingen über dem schwarzen Wasser, das am rückwärtigen Ende gegen das Gemäuer plätscherte.
In der Mitte des Lagerhauses stand ein Paar Lederschuhe. Sie waren klein – Kinderschuhe – und rußgeschwärzt. Schmauchspuren strahlten sternförmig davon aus wie eine versengte Sonne. Die Sohlen waren auf dem Boden festgenagelt. Ganz in der Nähe schrumpfte eine riesige Kabelrolle in sich zusammen, schlängelte sich immer weiter dem Himmel entgegen. Der Aufzug war bereits zehn Meter über Mr. Jelliby und entfernte sich mit jeder Sekunde weiter.
Er stürzte vorwärts und packte das Kabel mit beiden Händen. Bloß nicht nach unten schauen, dachte er. Falls die Rattenfee ihn sah, war das nicht weiter tragisch – was sollte sie schon tun, bevor Mr. Jelliby das Luftschiff erreichte?
Das Kabel riss ihn nach oben. Das kalte Metall schnitt ihm in die Hände. Er versuchte, sich mit den Füßen abzustützen, aber seine Schuhspitzen rutschten immer wieder ab, und er musste sich mit aller Kraft festhalten, um nicht in die Tiefe zu stürzen.
Immer höher und höher glitt er hinauf, durch das offene Dach und dem Himmel entgegen. Das Lagerhaus fiel unter ihm zurück. Der Wind knurrte kalt und grimmig und versetzte das Kabel in Schwingungen. Seine Finger wurden erst steif und dann gefühllos. Über ihm surrte der Aufzug, und hin und wieder wehte die Stimme der Rattenfee zu ihm herab, die ihren Spott an Bartholomew ausließ.
Er schloss die Augen. Auf die Stadt hinunterzuschauen, wagte er nicht. Nach oben zu blicken allerdings ebenso wenig. Wenn er sah, wie lange er noch aushalten musste, bevor er die Sicherheit des Luftschiffs erreichte, würde er möglicherweise sofort aufgeben. Er drückte die Stirn gegen das Kabel, spürte den schneidenden Frost auf seiner Haut. Sicherheit. An seinem Ziel würde es für ihn keine Sicherheit geben. Bestimmt wartete Mr. Lickerish dort oben, zusammen mit werweißwievielen seiner Lakaien. Selbst wenn Mr. Jelliby diese Himmelfahrt überlebte, käme er nur vom Regen in die Traufe.
Die Luft wurde noch kälter, als die Kabine ihren Schatten über ihn warf. Er öffnete die Augen. Das Luftschiff war riesig, ein gewaltiger schwarzer Wal, der unter den Wolken hing. Mr. Jelliby hatte Ophelia einmal auf einen Vergnügungsflug in einem Heißluftballon mitgenommen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie beide das Ungetüm voller Staunen angestarrt hatten, während sie durch Hampstead Heath darauf zugefahren waren. Seine Farben – die Farben eines Tropenvogels – waren leuchtend hell gewesen, heller als die Bäume und das Gras und der blaue Sommertag. So hell, dass es unmöglich gewesen war, irgendetwas anderes anzuschauen. Dieser Ballon hätte problemlos in die Kabine des Luftschiffs hineingepasst.
Mr. Jellibys Arme fühlten sich an, als würden sie gleich aus den Gelenken gerissen werden. Er konnte jede einzelne Sehne spüren, jeder Muskel war bis zum Zerreißen gespannt. Das Kabel zog ihn immer weiter und weiter hinauf. Jetzt konnte er auch den Namen des Fahrzeugs erkennen, der sich in filigranem Silber vom Bug abhob.
Die Wolke, die den Mond verbirgt.
Seine
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