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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Schulter zuckte heftig. Einen Moment lang befürchtete er, seine Arme würden einfach nachgeben und er würde stürzen, hinab, hinab, hinab bis nach Wapping. Mond? Das war der Mond? Der Mond in der Nachricht des Sperlings. Der Mond, von dem Melusine gesprochen hatte. Sie war nicht verrückt gewesen. Der Mond war ein Luftschiff.
    An der Unterseite der Kabine öffnete sich eine Luke. Mr.   Jelliby erhaschte einen Blick auf einen Korridor, der ganz von Wärme und gelbem Licht erfüllt war. Der Aufzug glitt hinein und kam zum Stillstand. Auch das Kabel hielt an. Einhundert Meter über London schaute sich Mr.   Jelliby verwirrt um.
    Gütiger Himmel. Sein Blick wandte sich wieder dem Korridor zu. Die Rattenfee hatte Bartholomew aus dem Aufzug gezerrt und war verschwunden. Die Luke schloss sich wieder.
    »Nein«, keuchte Mr.   Jelliby. In seiner Lunge kratzte es, als wäre sie mit einer Eisschicht überzogen. »Nein! Halt!«
    Aber selbst wenn ihn jemand im Luftschiff gehört hätte, hätten diese Schufte wohl eher an dem Kabel gerüttelt, als ihn zu retten.
    Also begann er, sich hochzuziehen, Zentimeter um Zentimeter. Die Luke schloss sich nur langsam, aber sie schien meilenweit entfernt zu sein. Kaum spürte er noch den Schmerz in seinen Armen. Tot fühlten sie sich an, völlig starr…
    Nein. Er biss die Zähne zusammen. Er würde nicht hier oben sterben. Er würde nicht am Kabel festfrieren wie ein dummes Insekt. Fünf Meter noch, das war alles. Fünf Meter würde er doch wohl schaffen. Für Orphelia. Für Bartholomew und Hettie.
    Er kämpfte sich weiter, wobei sich Hände und Beine und Füße gemeinsam abmühten, ihn nach oben zu befördern. Die Luke schloss sich weiter. War sie erst einmal ganz zu, blieb nur noch eine kleine Öffnung, durch die das Kabel in den Korridor führte. Bei weitem nicht groß genug für einen Menschen. Noch zwei Meter. Noch ein Meter. Gleich, gleich… Ein letztes Mal nahm Mr.   Jelliby alle Kraft zusammen und zwängte sich durch den Spalt. Das Metall schnitt ihm in die Waden, und mit einem Schrei riss er die Füße hoch, krabbelte ein Stück fort und blieb zitternd und keuchend liegen. Die Luke schloss sich mit einem lauten Scheppern. Dann herrschte Stille.
    Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben. Seine Wange ruhte auf einem weichen Teppich. Es roch nach Lampenöl und Tabak, und die Luft war warm. Stundenlang hätte er schlafen mögen und dabei alles vergessen. Aber er rappelte sich auf, blies in seine aufgesprungenen Hände und hinkte zur Treppe hinüber.
    Während er sie emporhumpelte, hielt er sich dicht an der Wand. Die Treppe mündete in einen Korridor, einen langen und hell erleuchteten Korridor, der ihm sonderbar vertraut vorkam. Mr.   Jelliby sah niemanden und hörte nichts außer dem Brummen der Motoren, also schlich er weiter. Vor jeder Tür blieb er stehen und lauschte. Er war sich sicher, dass er schon einmal hier gewesen war. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Schließlich erreichte er das Ende des Korridors. Die letzte Tür wirkte neuer als die übrigen, irgendwie glatter und glänzender. Und da fiel es ihm ein. Nonsuch House. Die pflaumenfarbene Dame, die an Gaslampen vorbei den Korridor entlanghuschte. Die Worte des Feenbutlers, als er Mr.   Jelliby eingeholt hatte. »Gehen Sie sofort da weg! Kommen Sie zurück ins Haus.« Der Korridor befand sich an Bord des Luftschiffs! Am Tag des Bierabends war er zufällig in Mr.   Lickerishs Geheimversteck hineingestolpert. Zwischen dem alten Haus auf der Blackfriar Bridge und dem Luftschiff am Himmel gab es irgendeinen Übergang. Feenmagie hatte eine Verbindung zwischen den beiden Orten geschaffen.
    Hinter der Tür waren Stimmen zu hören. Die Stimme von Mr.   Lickerish. Die Stimme von Bartholomew, leise und bestimmt. Und dann öffnete sich ein Stück den Korridor hinauf eine andere Tür.
    Mr.   Jelliby fuhr herum; Angst legte sich beklemmend um seine Brust. Er saß in der Falle. Nirgendwo ein Versteck, nirgendwo ein Versteck. Der Korridor war leer, nichts außer Lampen und vertäfelten Wänden. Alle Türen waren verschlossen. Alle – außer einer. In einer steckte ein Schlüssel. Mr.   Jelliby rannte hinüber und drehte den Schlüssel. Ein gutgeölter Riegel klickte auf. Genau in dem Moment, als der kleine braune Gnom den Korridor betrat, schlüpfte Mr.   Jelliby durch die Tür.
    In dem Zimmer, in dem er sich wiederfand, war es stockdunkel. Vorhänge verdeckten die Fenster, und er konnte nur einen Streifen der

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