Die Shakespeare-Morde
Marmorflächen, grünem Rasen und Barrikaden.
Dahinter erhob sich die Kuppel des Kapitols.
Zwei Blocks weiter westlich,
hatte Dr. Sanderson mir ausrichten lassen. Mit einer hübschen
Aussicht auf den Sonnenuntergang. Eine Welle der Sympathie erfasste mich,
als ich auf dem Schotterweg unter Ulmen und Ahornbäumen den Südflügel
des Kapitols umrundete. Hier war es kühler, zumindest bildete ich es
mir ein, weil die Brise im Laub der Bäume raschelte.
Wie versprochen hatte man vom
Kapitol nach Westen den besten Blick auf den Sonnenuntergang in der ganzen
Stadt. Am anderen Ende der National Mall leuchtete der weiße Obelisk
des Washington Monument, während die Sonne tief am dunstigen Himmel
stand. Vom anderen Ufer des Wassers wurden die fröhlichen Klänge
einer Sousa-Band herübergetragen. Normalerweise zog ich das bunte
Treiben von New York und London, wo sich die Moderne mit der Vergangenheit
vermischte, der ehrfürchtigen Atmosphäre eines Ortes wie diesem vor. Doch ich musste zugeben, in
der Stille eines Sommerabends war die Mall wunderschön.
Mein Blick schweifte über
die weiten Marmor- und Rasenflächen vor dem Kapitol. Für das
Wochenende des Unabhängigkeitstags war es merkwürdig leer, nur
ein vereinzeltes Liebespaar schlenderte durch den Park, und ein paar Männer
in Anzügen eilten mit gesenkten Köpfen irgendwohin. Die letzte Führung
durch das Kapitol war vorbei, und die meisten der Angestellten hatten längst
Feierabend. Für das Nachtleben war es noch zu früh - und zu heiß.
Die wenigen, die da waren, hatten sich um die Band auf der anderen Seite
des Wassers versammelt.
Von Dr. Sanderson war nichts
zu sehen, doch ich war früh dran. Ich drehte mich um und stieg die
mit Topfpalmen gesäumte Freitreppe hinauf, den Blick hinauf zur weißen
Kuppel gerichtet. Auf dem ersten Absatz blieb ich stehen und blickte zurück
auf die grüne und weiße Stadt.
Links unter der Balustrade
hatte die Dunkelheit bereits die Magnolien erreicht. Ein paar späte
Blüten hingen wie Sichelmonde zwischen den dunklen, fleischigen Blättern.
Ich schlenderte die Stufen hinunter auf die Bäume zu. Auf halbem Weg
nahm ich im Farn eine Bewegung wahr.
Zögernd ging ich eine
Stufe weiter, dann noch eine. Dort unten lag jemand im Farn, wie am Grund
einer tiefen Grube.
»Hallo?«
Keine Antwort. Ich lief die
Treppe hinunter und an der Marmorbalustrade vorbei, dann stieg ich
vorsichtig den Abhang hinauf und erreichte die Bäume. Hier herrschte
bereits tiefe Nacht. Ich blieb stehen, um meine Augen an die Dunkelheit zu
gewöhnen. Am Boden lag ein Mann und schlief. Ich kam näher. Ein
Mann mit grauem Haar und einer roten Fliege.
Ich ließ den Mantel
fallen und rannte zu ihm. Dr. Sanderson lag ausgestreckt am Boden, seine
Brust war mit Stichwunden übersät. Jemand hatte ihm die Kehle
durchgeschnitten, und die Wunde über seiner Fliege klaffte wie ein
zweiter, schlaffer Mund. Ich hatte ein Rauschen in den Ohren und den
metallischen Geschmack von Blut im Mund. Die Fliegen hatten ihn bereits
entdeckt. Würgend ging ich in die Knie. Dann sah ich das
zerknitterte Papier in seiner Hand. Ich beugte mich über ihn.
Im gleichen Moment stülpte
mir jemand von hinten eine Kapuze über den Kopf und warf mich zu
Boden.
Meine Bücher fielen mir
aus der Hand, und ich bekam keine Luft, konnte nicht einmal schreien. Dann
war er über mir, stopfte mir einen Knebel in den Mund, riss meine
Arme nach hinten und fesselte mich. Mit einer Hand griff er mir zwischen
die Beine.
Mit aller Kraft rollte ich
mich zur Seite und warf ihn ab. Ich rappelte mich auf die Knie, doch er
packte mich und riss mich wieder zu Boden. Mein Kopf schlug so hart auf
dem Boden auf, dass ich Sternchen sah, dann wurde alles weiß.
Einen Moment lang rührte
ich mich nicht. Ich darf nicht ohnmächtig werden, dachte ich. Allmählich
verblasste das grelle Licht, und ich kam wieder zu mir. Regungslos lag ich
da und lauschte. Er stand über mir. Was machte er? Unter der Kapuze
konnte ich nichts sehen, und schlimmer noch, ich hörte nichts als
sein leises Atmen. Messer machen kein Geräusch, wenn sie gezogen
sind.
Als er sich breitbeinig auf
mich kniete, riss ich das Knie hoch, so fest ich konnte.
Ein dumpfes Grunzen, und er
sackte zur Seite. Ich hoffte, ich hatte seine Weichteile erwischt. Rasch
rollte ich mich weg. Ich fühlte Blätter und Äste um mich
Weitere Kostenlose Bücher