Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
Vom Netzwerk:
hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Dann fiel mein Blick
     auf den moosgrünen Teppichboden, und ich erinnerte mich.
    Wir befanden uns auf dem
     Hauptflur, der die beiden Teile des Lesesaals miteinander verband, den
     Alten und den Neuen. Statt aus der Bibliothek herauszukommen, waren wir
     mitten in der Höhle des Löwen gelandet.
    Es war die Menschenmenge, die
     mich verwirrt hatte, doch jetzt begriff ich. Der Eröffnungsempfang
     der Konferenz hatte begonnen.
    »Gehen Sie«, flüsterte
     Athenaide. »Tauchen Sie in der Menge unter.«
    »Aber Dr. Sanderson«,
     protestierte ich. »Der Brief.«
    »Er hat mich zu Ihnen
     geschickt«, sagte sie. »Sie treffen ihn in dreißig
     Minuten zwei Blocks weiter westlich. Mit einer hübschen Aussicht auf den Sonnenuntergang, hat er
     gesagt. Sie erkennen die Stelle, wenn Sie sie sehen.«
    »Großartig,
     Athenaide. Jetzt muss ich nur noch beim FBI Spießruten laufen.«
    »Ich schlage vor, Sie
     nehmen den Haupteingang«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Hinten
     haben Sie schon die Pferde scheu gemacht. Vorne auf dem Rasen schenken
     Kellner in Renaissance-Kostümen Sekt aus. In der Großen Halle
     neben dem Ausgang ist eine Auslage mit Kostümen. Borgen Sie sich
     eins.«
    »Aber Ben -«
    »Ich werde ihm sagen,
     wo Sie sind. Und jetzt gehen Sie.«
    Sie gab mir einen kleinen
     Schubs, und ich trat in den Alten Lesesaal. Es war mehr als voll. Der Raum
     platzte aus allen Nähten.
    Hoch über uns fiel das
     Abendlicht durch die bunten Fenster. Im Saal herrschte ein Babel der
     verschiedensten englischen Akzente, dazu Deutsch, Japanisch, Französisch
     und Russisch. Irgendwo spielte ein Quartett Madrigale. Ich wurde gegen
     einen Mann in einer Druidenkutte gedrückt - wahrscheinlich der
     Erzmagus -, doch ich kämpfte mich weiter.
    Auf der anderen Seite des
     Raums rief jemand meinen Namen.
    Im nächsten Moment schob
     sich Athenaide an mir vorbei und lief geschmeidig die Treppe hinauf zur
     Galerie. Sie lehnte sich über die Balustrade und klingelte mit einem
     hellen, silbernen Glöckchen.
    Die Menge wurde still und sah
     erwartungsvoll zu ihr hinauf.
    »Ich möchte Sie
     alle herzlich willkommen heißen«, begann Athenaide.
    Währenddessen drängelte
     ich mich durch die Menge zu einem hohen gemeißelten Kamin vor, von
     dem aus ich die Flügeltür der Großen Halle erreichte. Sie
     war genauso getäfelt wie der Founders’ Room, nur dass die Große
     Halle fünf- bis sechsmal größer war und eine hohe Gewölbedecke
     hatte. Normalerweise wurde der Raum für Ausstellungen genutzt. Es war
     der einzige Ort der Bibliothek, der der Öffentlichkeit zugänglich
     war. Heute Abend aber waren hier die reich gedeckten Tische aufgebaut, an
     denen später das üppige Galadinner serviert würde. Ich lief
     im Slalom um die Tische, auf den Museumsshop und den Ausgang zur Straße
     zu. 
    In einer Ecke der Halle
     befand sich, wie Athenaide versprochen hatte, ein Podest mit
     Schaufensterpuppen in Kleidern aus der Shakespeare-Zeit - keine echten
     Renaissance-Trachten, sondern Kostüme aus großen
     Hollywoodproduktionen. »Leihgabe der Athenaide Dever Preston
     Collection« stand auf einer Plakette.
    In der Mitte stand Laurence
     Olivier als Hamlet verkleidet. Mit einem Ruck zog ich ihm den dunklen
     Umhang vom Rücken und schwang ihn mir über die Schulter. Dann
     streckte ich den Kopf durch die Tür. Links, am anderen Ende des
     Korridors vor dem Founders’ Room wimmelte es plötzlich von
     Menschen.          
    Ich drückte die Bücher
     an mich und wandte mich nach rechts. Eine Glastür führte hinaus
     auf den Rasen, wo Kellner aus dem 16. Jahrhundert den Gästen aus dem
     21. Jahrhundert auf Silbertabletts Sekt servierten. In Sir Oliviers Mantel
     gehüllt, schlenderte ich durch die Menge. Als auf dem Bürgersteig
     eine Gruppe von Passanten vorbeikam, trat ich von der Wiese und schloss
     mich ihnen an. Dann eilte ich so unauffällig wie möglich die
     Capitol Street hinauf.

 
    27
    Der Tag war heiß und
     schwül gewesen. Selbst bei Einbruch der Dämmerung war die Hitze
     noch drückend, aber wenigstens hatte sich eine leichte Brise erhoben.
     Trotzdem war ich unter meinem Mantel schweißgebadet.
    Mit gesenktem Kopf und
     gespitzten Ohren passierte ich die Library of Congress zur Linken und den
     Obersten Gerichtshof auf der rechten Seite. Ich hörte keine Schritte
     hinter mir. Schließlich zog ich den Mantel aus und sah auf. Vor mir
     lag ein Platz mit

Weitere Kostenlose Bücher