Die Shakespeare-Morde
hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Dann fiel mein Blick
auf den moosgrünen Teppichboden, und ich erinnerte mich.
Wir befanden uns auf dem
Hauptflur, der die beiden Teile des Lesesaals miteinander verband, den
Alten und den Neuen. Statt aus der Bibliothek herauszukommen, waren wir
mitten in der Höhle des Löwen gelandet.
Es war die Menschenmenge, die
mich verwirrt hatte, doch jetzt begriff ich. Der Eröffnungsempfang
der Konferenz hatte begonnen.
»Gehen Sie«, flüsterte
Athenaide. »Tauchen Sie in der Menge unter.«
»Aber Dr. Sanderson«,
protestierte ich. »Der Brief.«
»Er hat mich zu Ihnen
geschickt«, sagte sie. »Sie treffen ihn in dreißig
Minuten zwei Blocks weiter westlich. Mit einer hübschen Aussicht auf den Sonnenuntergang, hat er
gesagt. Sie erkennen die Stelle, wenn Sie sie sehen.«
»Großartig,
Athenaide. Jetzt muss ich nur noch beim FBI Spießruten laufen.«
»Ich schlage vor, Sie
nehmen den Haupteingang«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Hinten
haben Sie schon die Pferde scheu gemacht. Vorne auf dem Rasen schenken
Kellner in Renaissance-Kostümen Sekt aus. In der Großen Halle
neben dem Ausgang ist eine Auslage mit Kostümen. Borgen Sie sich
eins.«
»Aber Ben -«
»Ich werde ihm sagen,
wo Sie sind. Und jetzt gehen Sie.«
Sie gab mir einen kleinen
Schubs, und ich trat in den Alten Lesesaal. Es war mehr als voll. Der Raum
platzte aus allen Nähten.
Hoch über uns fiel das
Abendlicht durch die bunten Fenster. Im Saal herrschte ein Babel der
verschiedensten englischen Akzente, dazu Deutsch, Japanisch, Französisch
und Russisch. Irgendwo spielte ein Quartett Madrigale. Ich wurde gegen
einen Mann in einer Druidenkutte gedrückt - wahrscheinlich der
Erzmagus -, doch ich kämpfte mich weiter.
Auf der anderen Seite des
Raums rief jemand meinen Namen.
Im nächsten Moment schob
sich Athenaide an mir vorbei und lief geschmeidig die Treppe hinauf zur
Galerie. Sie lehnte sich über die Balustrade und klingelte mit einem
hellen, silbernen Glöckchen.
Die Menge wurde still und sah
erwartungsvoll zu ihr hinauf.
»Ich möchte Sie
alle herzlich willkommen heißen«, begann Athenaide.
Währenddessen drängelte
ich mich durch die Menge zu einem hohen gemeißelten Kamin vor, von
dem aus ich die Flügeltür der Großen Halle erreichte. Sie
war genauso getäfelt wie der Founders’ Room, nur dass die Große
Halle fünf- bis sechsmal größer war und eine hohe Gewölbedecke
hatte. Normalerweise wurde der Raum für Ausstellungen genutzt. Es war
der einzige Ort der Bibliothek, der der Öffentlichkeit zugänglich
war. Heute Abend aber waren hier die reich gedeckten Tische aufgebaut, an
denen später das üppige Galadinner serviert würde. Ich lief
im Slalom um die Tische, auf den Museumsshop und den Ausgang zur Straße
zu.
In einer Ecke der Halle
befand sich, wie Athenaide versprochen hatte, ein Podest mit
Schaufensterpuppen in Kleidern aus der Shakespeare-Zeit - keine echten
Renaissance-Trachten, sondern Kostüme aus großen
Hollywoodproduktionen. »Leihgabe der Athenaide Dever Preston
Collection« stand auf einer Plakette.
In der Mitte stand Laurence
Olivier als Hamlet verkleidet. Mit einem Ruck zog ich ihm den dunklen
Umhang vom Rücken und schwang ihn mir über die Schulter. Dann
streckte ich den Kopf durch die Tür. Links, am anderen Ende des
Korridors vor dem Founders’ Room wimmelte es plötzlich von
Menschen.
Ich drückte die Bücher
an mich und wandte mich nach rechts. Eine Glastür führte hinaus
auf den Rasen, wo Kellner aus dem 16. Jahrhundert den Gästen aus dem
21. Jahrhundert auf Silbertabletts Sekt servierten. In Sir Oliviers Mantel
gehüllt, schlenderte ich durch die Menge. Als auf dem Bürgersteig
eine Gruppe von Passanten vorbeikam, trat ich von der Wiese und schloss
mich ihnen an. Dann eilte ich so unauffällig wie möglich die
Capitol Street hinauf.
27
Der Tag war heiß und
schwül gewesen. Selbst bei Einbruch der Dämmerung war die Hitze
noch drückend, aber wenigstens hatte sich eine leichte Brise erhoben.
Trotzdem war ich unter meinem Mantel schweißgebadet.
Mit gesenktem Kopf und
gespitzten Ohren passierte ich die Library of Congress zur Linken und den
Obersten Gerichtshof auf der rechten Seite. Ich hörte keine Schritte
hinter mir. Schließlich zog ich den Mantel aus und sah auf. Vor mir
lag ein Platz mit
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