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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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    HENLEY-IN-ARDEN
    Mrs Henry Clay Folger
    Folger Library
    Washington, D. C.
    U.S. A.
     
    5. Mai 1932
     
    Sehr geehrte Mrs Folger,
    vergeben Sie mir, daß
     ich mir die Freiheit nehme, Sie als Fremde direkt anzuschreiben, und
     akzeptieren Sie mein herzliches Beileid zum Tod Ihres Gatten sowie meinen Glückwunsch
     zu den raschen Fortschritten, die Bibliothek zu eröffnen, was gewiß
     seinem Wunsch entsprach. Ich hätte mir die Freiheit nicht zu nehmen
     gewagt, würde es nicht auch mit mir zu Ende gehen, was Sie zumindest
     der Last einer Antwort enthebt.
    Ich verfüge über
     gewisse Informationen, die ich viele Jahre nicht herausgeben wollte - aus
     Feigheit, anders kann ich es heute nicht nennen. Oder, der Gerechtigkeit
     halber, es war eine Mischung aus Feigheit und Sorgfaltspflicht. Schweigen
     war der Kurs, den ich aus Sorge um mein eigenes Wohl wählte, doch vor
     allem aus Sorge um das Wohl meiner Tochter.
    Vor langer Zeit hatten ein
     Freund und ich uns auf die Suche nach einem Schatz begeben, der so
     sagenumwoben war wie der Palast von Knossos oder die Ruinen Trojas. Wir
     nannten ihn unseren englischen Aischylos. Unseren verlorenen Sophokles,
     unsere süße Sappho. Am Ende, nach langen, schrecklichen
     Entbehrungen, fand mein Freund den Schatz - doch mit ihm fand er Papiere,
     die unseren Triumph in ein düsteres Licht tauchten. Briefe. Ich habe
     sie nie selbst gesehen, doch ich weiß, was sie besagen:
    Miß Bacon hatte
     Recht - Recht und nochmals Recht. 
    Doch als wir damals die
     Hand nach dem Schatz ausstreckten, sündigten wir gegen Gott und die
     Menschen. Mein Freund mußte dafür sterben, mutterseelenallein
     und weit fort von zu Hause, unter ungeklärten Umständen, doch höchstwahrscheinlich
     in seiner eigenen Höllengrube. Viele Jahre habe ich nun mit dem
     Halbwissen um seinen Tod gelebt, und die Wahrheit gräbt sich
     zersetzend durch meinen Verstand.
    Sie müssen verstehen,
     ich habe keine Beweise. Mein Freund nahm alles - wenn nicht die Beweise,
     so doch das Wissen um ihren Verbleib -mit hinunter in sein namenloses
     Grab.
    Da ich leider weder Miß
     Bacons Mut noch ihre Zuversicht besitze, beschloß ich, angesichts
     der fehlenden Beweise zu schweigen, da ich nicht riskieren wollte, ihr
     Schicksal zu teilen - in ein Irrenhaus verbannt zu sein -, eine irdische
     Verdammung, deren Qualen ich gut genug kenne, um sie selbst am hellichten
     Tage zu fürchten. Zu meiner Verteidigung, sofern eine solche möglich
     ist, sei gesagt, daß ich — anders als Miß
     Bacon — einen Menschen hatte, für den ich sorgen mußte.
    Ein anderer lieber Freund,
     Professor in Harvard, der das, wovon ich Ihnen berichte, durchaus kritisch
     betrachtete, hat mich vor langer Zeit schon eindringlich davor gewarnt,
     mein Wissen mit ins Grab zu nehmen. »Was Menschen Übles tun,
     das überlebt sie«, sagte er, »das Gute wird mit ihnen oft
     begraben.« Seine Worte erschreckten mich, denn ich hatte sie schon
     einmal gehört, jenes Mal voller Mitleid und Furcht. Und so habe ich
     ihm das Versprechen gegeben, zu versuchen, dieses Schicksal umzukehren -
     ein Versprechen, das ich ehren möchte.
    Und habe, soweit es mir möglich
     war, alles an seinen rechtmäßigen Platz zurückgebracht,
     wenn mir auch manche Türen versperrt blieben; einen kleinen Teil habe
     ich in meinem Garten vergraben. Doch viele Wege führen zur Wahrheit.
     Unser jakobäisches Magnum opus, 1623, ist einer davon. Shakespeare
     weist einen anderen.
    Ich hege keine Illusionen,
     daß Sie dem Weg folgen, der andere so viel Glück und Blut
     gekostet hat. Ich schreibe Ihnen, weil Sie über die Mittel verfügen,
     das Wissen zu bewahren, daß ein solcher Weg existiert — damit
     das Gute, das wir tun, uns vielleicht doch überlebt, während das
     Böse mit uns begraben wird.
    Hochachtungsvoll die Ihre,
    Ophelia Fayrer Granville
     
    »Nur weil Ophelia
     glaubte, Delia Bacon hätte recht, heißt das noch lange nicht,
     dass es auch so war.« Diesmal sprach ich es laut aus.
    Ben stand am Waschbecken und
     wrang das Handtuch aus. »Sie glaubte, sie hätte Beweise«,
     sagte er. »Oder zumindest, dass Jem Granville Beweise hatte.«
     Er kam zu mir, kniete sich vor mich hin und begann mir sanft das Gesicht
     abzutupfen. »Nur ein paar blaue Flecken und Kratzer. Nichts, was Sie
     entstellt. Sie haben einen harten Schädel, Kate Stanley.«
    Ich griff nach seinem
     Handgelenk. »Wir müssen es finden. Was immer Granville gefunden
    

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