Die Shakespeare-Morde
worden.
HENLEY-IN-ARDEN
Mrs Henry Clay Folger
Folger Library
Washington, D. C.
U.S. A.
5. Mai 1932
Sehr geehrte Mrs Folger,
vergeben Sie mir, daß
ich mir die Freiheit nehme, Sie als Fremde direkt anzuschreiben, und
akzeptieren Sie mein herzliches Beileid zum Tod Ihres Gatten sowie meinen Glückwunsch
zu den raschen Fortschritten, die Bibliothek zu eröffnen, was gewiß
seinem Wunsch entsprach. Ich hätte mir die Freiheit nicht zu nehmen
gewagt, würde es nicht auch mit mir zu Ende gehen, was Sie zumindest
der Last einer Antwort enthebt.
Ich verfüge über
gewisse Informationen, die ich viele Jahre nicht herausgeben wollte - aus
Feigheit, anders kann ich es heute nicht nennen. Oder, der Gerechtigkeit
halber, es war eine Mischung aus Feigheit und Sorgfaltspflicht. Schweigen
war der Kurs, den ich aus Sorge um mein eigenes Wohl wählte, doch vor
allem aus Sorge um das Wohl meiner Tochter.
Vor langer Zeit hatten ein
Freund und ich uns auf die Suche nach einem Schatz begeben, der so
sagenumwoben war wie der Palast von Knossos oder die Ruinen Trojas. Wir
nannten ihn unseren englischen Aischylos. Unseren verlorenen Sophokles,
unsere süße Sappho. Am Ende, nach langen, schrecklichen
Entbehrungen, fand mein Freund den Schatz - doch mit ihm fand er Papiere,
die unseren Triumph in ein düsteres Licht tauchten. Briefe. Ich habe
sie nie selbst gesehen, doch ich weiß, was sie besagen:
Miß Bacon hatte
Recht - Recht und nochmals Recht.
Doch als wir damals die
Hand nach dem Schatz ausstreckten, sündigten wir gegen Gott und die
Menschen. Mein Freund mußte dafür sterben, mutterseelenallein
und weit fort von zu Hause, unter ungeklärten Umständen, doch höchstwahrscheinlich
in seiner eigenen Höllengrube. Viele Jahre habe ich nun mit dem
Halbwissen um seinen Tod gelebt, und die Wahrheit gräbt sich
zersetzend durch meinen Verstand.
Sie müssen verstehen,
ich habe keine Beweise. Mein Freund nahm alles - wenn nicht die Beweise,
so doch das Wissen um ihren Verbleib -mit hinunter in sein namenloses
Grab.
Da ich leider weder Miß
Bacons Mut noch ihre Zuversicht besitze, beschloß ich, angesichts
der fehlenden Beweise zu schweigen, da ich nicht riskieren wollte, ihr
Schicksal zu teilen - in ein Irrenhaus verbannt zu sein -, eine irdische
Verdammung, deren Qualen ich gut genug kenne, um sie selbst am hellichten
Tage zu fürchten. Zu meiner Verteidigung, sofern eine solche möglich
ist, sei gesagt, daß ich — anders als Miß
Bacon — einen Menschen hatte, für den ich sorgen mußte.
Ein anderer lieber Freund,
Professor in Harvard, der das, wovon ich Ihnen berichte, durchaus kritisch
betrachtete, hat mich vor langer Zeit schon eindringlich davor gewarnt,
mein Wissen mit ins Grab zu nehmen. »Was Menschen Übles tun,
das überlebt sie«, sagte er, »das Gute wird mit ihnen oft
begraben.« Seine Worte erschreckten mich, denn ich hatte sie schon
einmal gehört, jenes Mal voller Mitleid und Furcht. Und so habe ich
ihm das Versprechen gegeben, zu versuchen, dieses Schicksal umzukehren -
ein Versprechen, das ich ehren möchte.
Und habe, soweit es mir möglich
war, alles an seinen rechtmäßigen Platz zurückgebracht,
wenn mir auch manche Türen versperrt blieben; einen kleinen Teil habe
ich in meinem Garten vergraben. Doch viele Wege führen zur Wahrheit.
Unser jakobäisches Magnum opus, 1623, ist einer davon. Shakespeare
weist einen anderen.
Ich hege keine Illusionen,
daß Sie dem Weg folgen, der andere so viel Glück und Blut
gekostet hat. Ich schreibe Ihnen, weil Sie über die Mittel verfügen,
das Wissen zu bewahren, daß ein solcher Weg existiert — damit
das Gute, das wir tun, uns vielleicht doch überlebt, während das
Böse mit uns begraben wird.
Hochachtungsvoll die Ihre,
Ophelia Fayrer Granville
»Nur weil Ophelia
glaubte, Delia Bacon hätte recht, heißt das noch lange nicht,
dass es auch so war.« Diesmal sprach ich es laut aus.
Ben stand am Waschbecken und
wrang das Handtuch aus. »Sie glaubte, sie hätte Beweise«,
sagte er. »Oder zumindest, dass Jem Granville Beweise hatte.«
Er kam zu mir, kniete sich vor mich hin und begann mir sanft das Gesicht
abzutupfen. »Nur ein paar blaue Flecken und Kratzer. Nichts, was Sie
entstellt. Sie haben einen harten Schädel, Kate Stanley.«
Ich griff nach seinem
Handgelenk. »Wir müssen es finden. Was immer Granville gefunden
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