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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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I - zeigte vor allem wachsame, intelligente Augen. Die einzigen
     Details, an die ich mich erinnerte, waren ein bescheidener Batistkragen
     und das Funkeln eines schlichten Goldohrrings. Auch hier fehlten die Hände.
     Dann gab es noch ein paar zweifelhafte Porträts, auf denen der
     Haaransatz immer höher rutschte, die Kleider dafür immer
     kostbarer wurden - bauschige scharlachrote Satinhemden mit Silberknöpfen
     oder dunkler, mit Gold- und Silberfäden durchwirkter Brokat. Alle
     zeigten seine Büste von den Schultern aufwärts - höchstens
     die Ellbogen waren noch zu sehen. Auf keiner der Darstellungen wies
     Shakespeare irgendwohin.       
    »Was ist mit Statuen?«,
     fragte Ben.
    Ich schüttelte den Kopf.
     Die einzige annähernd zeitgenössische Statue, die mir einfiel,
     war sein Grabmal in Stratford. Erst heute Nachmittag in der Folger Library
     hatte ich eine Reproduktion gesehen. Das Gesicht rund wie das von Charlie
     Brown mit einem Ausdruck, der sich je nach Laune des Betrachters von vergnügt
     bis selbstgefällig deuten ließ. In der Hand, die auf einem
     Kissen ruhte, hielt er Feder und ein Blatt Papier bereit. Bereit wofür?
     Er sah eher aus wie ein Sekretär beim Diktat als ein Genie, das auf
     den Kuss der Muse wartete.
    »Wenigstens hat er Hände«,
     sagte Ben.
    »Aber sie zeigen
     nirgendwohin.«
    »Muss es denn eine
     zeitgenössische Statue sein?«
    Ich lehnte mich zurück.
     Davon war ich spontan ausgegangen, aber … Natürlich musste das
     Denkmal nur so alt sein, dass Ophelia und Jem es gekannt haben konnten.
     Welche Shakespeare-Statuen gab es noch? Schemenhaft tauchte ein
     schwarz-weißer Umriss in meinem Kopf auf. Weißer Marmor vor
     grauem Grund …
    »Westminster Abbey.«
    Einen Moment lang starrten
     wir einander an. »Poets Corner«, sagte Ben. Die Ecke im
     Querschiff, die Englands Dichtern geweiht war. »Wo zeigt er hin?«
    »Ein Buch vielleicht.
     Oder eine Schriftrolle. Ich bin mir nicht sicher.«
    Ben stellte seinen Becher ab.
     »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie nach London. Wir fliegen sowieso
     nach Heathrow, wenn wir nach Henley wollen. Es könnte allerdings
     sein, dass die Polizei Poets’ Corner für ein mögliches
     Anschlagsziel hält und Beamte dort abgestellt hat.«
    Er beugte sich eindringlich
     vor.
    »Wenn Sie sich jetzt
     stellen, wäre der Polizei klar, dass Sie ein Opfer sind. Sie sagen
     alles, was Sie wissen, und dann wird sich die Polizei um den Mörder kümmern.
     Falls Sie weiter auf der Flucht sind, muss die Polizei zwangsläufig
     davon ausgehen, dass Sie mit dem Mörder unter einer Decke stecken.
     Oder mit der Mörderin.«
    Ich sprang auf und begann, in
     der Küche auf und ab zu gehen. »Was dem Mörder, der jetzt
     schon eine Stunde Vorsprung hat, noch ein paar Tage dazugeben würde.«
    »Nicht unbedingt«,
     sagte Ben. »Er hat den Brief zurückgelassen.«
    Ich blieb stehen. »Was
     schlagen Sie vor?«
    »Vielleicht will der Mörder
     nicht, dass Granvilles Entdeckung ans Tageslicht kommt. Vielleicht will
     er, dass die Schatzsuche aufhört.«
    Während ich darüber
     nachdachte, begann ich wieder auf und ab zu gehen. »Es gibt viele
     Leute, denen es nicht passen würde, wenn Shakespeare von seinem
     Sockel gestoßen wird.«
    »Vergessen Sie die
     Sache mit der Autorschaft. Davon haben wir selbst nichts gewusst, bis wir
     diesen Brief in den Händen hatten. Bisher waren wir auf der Jagd nach
     dem Stück.« Seine Stimme wurde dunkler. »Wer will nicht,
     dass ›Cardenio‹ gefunden wird?«
    »Warum sollte
     irgendjemand etwas dagegen -« Mitten im Satz brach ich ab. »Die
     Oxfordianer«, sagte ich heiser. »Athenaide.«
    Daten sind wackelig, hatte
     sie erst vor ein paar Stunden gesagt, als wir in der neojakobäischen
     Pracht des Founders’ Room standen. Doch das stimmte nicht. Falls wir
     ›Cardenio‹ fanden, wäre ihr Mann, der Graf von Oxford -
     das heimliche Juwel, auf das sie ihr Schloss gebaut hatte -, aus dem
     Spiel.
    Die Feinheit, dass Delia
     Bacon möglicherweise recht behielt, würde Athenaide nicht
     interessieren. Delia hatte geglaubt, dass der Mann hinter Shakespeares
     Maske Sir Francis Bacon war. Und wer zu töten bereit war, um Beweise
     verschwinden zu lassen, dass William Shakespeare William Shakespeare war,
     wie die Drucker behaupteten, würde genauso wenig davor zurückschrecken,
     wenn der Gegner Francis Bacon hieß.
    Nein - Athenaide war der
     logische Schluss, sofern man bei all dem Wahnsinn von Logik

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